II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 118


Nun, die Entschädigung darf er sich ge¬
fallen lassen. Die fünf Anatol-Szenen fügen
sich zu einer runden fünfaktigen Komödie. Die
Beiber wechseln, Anatol und sein Freund Max
sind das Beharrende. Der posierende Viveur
Anatol, der sich die Rolle des Herzenzertreters
andichtet, ist immer nur ein naiv betrogener
harmloser Betrüger; und wenn er im ersten
Stückchen, der „Frage an das Schicksal,
zu feige ist, die hypnotisierte Geliebte zu fragen,
ob sie ihm treu sei, weil er die verneinende
Antwort fürchtet, so ist die Don=Juan=Komödie,
die er sich nur vorspielt, mit liebenswürdigster
Ironie angeschlagen. Zwar Max meint: „Die
Weiber lügen selbst in der Hypnose“, aber kann
man's wissen? Lieber nichts hören! — Anatol
bleibt im Glück bei den süßen Mädchen der Vor¬
stadt; die Frauen der Gesellschaft zwingt er sich
nicht. Gabriele, die er am Christabend bei
letzten Einkäufen begleitet („Weihnachts¬
einkäufe") hat nicht den Mut zur Liebe,
und sie läßt sich von dem vergebens lockenden
Anatol sein Vorstadtglück beschreiben. Er weiß
es wohl selbst nicht, ob er die Wahrheit erzählt
oder nur renommiert.
Aber er definiert das „füße Mädl“, das nicht
besonders schön ist, nicht elegant, aber die An¬
ter behördl.
konzessionirtes
Bureau
GUELEN. 1916
für Zeitungenachrichten
Wien, I.
Konkordiaplatz 4
Nationale
Kleines Feuilleton.
„Anatol
— Der Goldglanz dieser wehmütig schwelgerischen Jugend
die sich und ihre winzigen Erotica — in ironischer Distanz — so
wichtig nimmt, ist schon sehr verblaßt. Aber was ihre Erlebnisse
noch heute verklärt, das ist die Zärtlichkeit, mit der Arthur
Schnitzler sie in runde Rahmen gefaßt hat. Und von eine
vollkommenen Anatol hat wie das Lessing¬
theater ihn in Herrn Monnard besitzt, dann muß ihr die
Aufführung der fünf Einakterchen auch jetzt noch zu einem sehr
sympathischen Erfolg verhelfen. Herr Monnard gab dem senti¬
mentalen Genießer eine liebenswürdig=schlaffe Wohlgenährtheit
eine elegante Müdigkeit und Weichheit, die den Ernst aller seiner
Probleme von vornherein abwehrt und die philosophischen Ge¬
bärden seines Gesellschafts=Schmarotzertums vergnüglich belächeln
läßt. So trug er auf seinen lässigen Schultern das ganze Behagen
dieser süßlichen Welt, und Herr Reicher begnügte sich als
Freund Max damit, nicht zu stören. Frl. Somary, Fel.
Lossen, Frau Triesch und Frl. Herterich ließen die Ge¬
stalten, die Anatol umschwärmt, beschwingten Schrittes vorüber¬
huschen. Die dankbarste Rolle hatte Frl. Sussin als Annie im
„Abschiedssouper" und trotz einiger Momente kreischender Auf¬
dringlichkeit und eckiger Altjungferlichkeit erntete auch sie starken
Beifall. Am frischesten wirkte „Anataols Hochzeitsmorgen", weil
hier die Anatol=Situation auf die Spitze gestellt und die bürger¬
lich vornehme Welt zur Kleinbürgerwelt der süßen Mädel und der
Theatersternchen in leiblichsten Kontrast gebracht ist. Das Publi¬
kum hat sich im Theater schon lange nicht so gut unterhalten wie
dieses Mal.
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4.9. Anatol - Zyklus
601.1910
rankfurter Zeitung
Kleines Feuilleton.
entier, Theater Gewiß niemand daß der
Zweifeln, es wäre schlechter gegangen, wenn es besser war.
So, wie es war, wurde es ein fröhlicher Abend, und man
nahm eigentlich einen Erfolg auf, der seit Jahren auf der
Straße gelegen hatte. Sie waren denn auch alle anwesend,
das gesamte Berliner Premierenpublikum, in seiner Eleganz
und in seiner Neugier, und sie gingen alle höchlichst befrie¬
digt heim. Nur einer fehlte, und es war gut, daß er nicht
dabei war, zumal er auch keineswegs zu dem Berliner Pre¬
mierenpublikum gehört, zumal ihn die Sache wenig anging.
Dieser eine war Arthur Schnitzler. Man führte nämlich
im Lessingtheater fünf seiner „Anatol-Einakter
auf . . . Arthur Schnitzler also, der nicht dabei war, blieb
die Verwunderung erspart mitanzusehen, was aus seinem
Anatol geworden war. Ja, was denn ne biedere, derbe,
außerordentlich wirkungsvolle Lustspielfigur. Vom Schlag¬
der Ritter von Kadelburgs und Oskar Blumenthals
Gnaden. Ein wienernder Dümmling mit der Aestheten=Kra¬
watte. Ein reicher Jüngling mit einem Bonbonherzen. Herr
Heinz Monnard (diesen Griechen beginn ich nachgerade
zu fürchten, und zumal wenn er schenkt) hatte die Provinz¬
tüchtigkeit in Anatol entdeckt. Nicht wahr, Anatol ist doch ein
Lebemann? Herr Monnard wird ihn also im ersten Spiel im
vollen Schmuck der braunen Haare geben, wird ihn von Ein¬
akter zu Einakter kahler werden lassen, wird ihn schließlich
im „Hochzeitsmorgen mit einem Kürbisschädel spielen und
dabei triumphierend ins Publikum blicken. Wie, das ist doch
Charakteristik? Wie, das ist doch witzig? Fern ganz fern
entschwindet der andere Anatol, den wir kannten, mit dem
wir uns ein wenig verwandt fühlten, dessen verzärtelte
Finger weich über ein Mädchenhaupt glitten, die Haarflechten
verwundert betastend, als wäre jede Lora oder Annie ein
Frühlingswunden. „Also spielen wir Theater, spielen unsre
eigenen Stücke, früh gereift und zart und traurig, die Ko¬
modie unserer Seele" hieß es nicht so in dem Widmungsge¬
dicht zu „Anatol“? Und was ist davon geblieben? Das
Frühlingswunder selbst! Das erneute sich auf der Bühne
des Lessingtheaters. Man mag Anatol noch so provinzmäßig
verschustern, er lebt (wie wir alle) in denen, die er liebte,
von den Mädchengestalten, den immer wechselnden, geht ein
Licht aus, dies Licht, das ein junger, wissender Poet in einem
Prisma fing, daß es bunt und bunter leuchtete. Nun steht
die Frau mit den klugen Augen — ein Glücksverlangen ist
darin, dem die Klugheit die Gewährung versagte
neben
Anatol: Frl. Lossen. („Weihnachtseinkäufe.)
Nun ist
der Tisch zum „Abschiedssouper, gedeckt, und die kleine
Ballettratte schlüpft ins Zimmer hinein, und Frl. Sussin
entdeckt sich uns als ein ganz ursprüngliches Temperament,
und die Frechheit steht ihr prachtvoll zu Gesicht. Frl.
Herterich macht in „Episode recht glücklich Figur, wie
Frl. Nomary dem Stuhl, auf dem sie („Frage an das
Schicksal") hypnotisiert einschläft, nicht zur Unehre gereicht.
Und schließlich kömmt Irene Triesch in Anatols Hochzeits¬
morgen, und da vollzieht sich das letzte Wunder —: Natur.
Das ist nicht mehr Laune und Temperament und Frechheit
nebeneinander, es ist das alles in eins verschmolzen, es ist Na¬
tur. Man kann auch sagen, es ist „Gnade", und der alte Fon¬
tane hätte sich so ausgedrückt. Wie sich neben dieser großen
Künstlerin Herr Monnard mit seinem witzigen Kürbisschädel
ausnahm, ist unaussprechbar. Es gibt allenfalls ein Bild da¬
für. Man ist eines Wintermorgens, von dem Lärm verärgert,
ans Fenster getreten und blickt in den Hof hinaus. Unten
steht ein Drehorgelmann mit einem Mädchen, das singt. Und
der Invalide leiert und leiert, und die Stimme des Kindes
klingt ganz rein, ganz jugendhell ...
E. H.