II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 143

4.9. Anato.
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Von Schnitzler
Anatol
Achtzehn Jahre lang hat man irgend einem dramatischen Nah¬
rungsmittel, von Schnitzler oder sonstwem, den einen oder
den andern Anatol-Akt vorausgeschickt, um den Appetit zu
reizen, oder hinterhergeschickt, um die Verdauung zu befördern. Kein
guter Gedanke, plötzlich eine ganze Theatermahlzeit mit dem Anatol¬
Zyklus zu bestreiten. Zum Schluß war einem so flau, daß man viel
für ein Stück Kommißbrot gegeben hätte. Dabei ist unverständlich,
daß Brahm sich diesen Verlauf nicht selbst, daß Schnitzler ihn nicht vor¬
hergesagt hat. Auf unsern deutschen Bühnen probiert ein jeder, was
er mag, wenn es auch nur die entfernteste Aussicht auf Erfolg hat.
Daß also von einem Dichter dieses Ranges, einem Autor dieses Markt¬
werts eine Serie heiterer kleiner Stücke, die seit einem halben Menschen¬
alter vorliegt, niemals im Zusammenhang gespielt worden ist: dieser
Tatbestand allein und die Einsicht in die Berechtigung dieses Tatbestandes
hätte alte Praktiker von dem Experiment abhalten sollen. Erfreulicher¬
weise hatte das Experiment nicht sieben, sondern wenigstens blos fünf
Teile. Davon ist der vierte Teil ganz, der zweite halb mißglückt, ist
der erste Teil leidlich, der fünfte genügend und der dritte völlig geglückt.
Diesen dritten Teil — das Abschiedssouper — haben ungefähr sämt¬
liche deutschen Bühnen gespielt. Um zu beweisen, daß sie weise daran
getan haben, brauchte das Lessingtheater wirklich keinen besondern
Abend zu veranstalten.
Was im Laufe dieses Abends immer mehr ermattet und verdrießt,
ist die Einförmigkeit seines Inhalts. Anatol wird fünfmal von der¬
selben Seite gezeigt. Wenn er weiter keine Seite hat? Eben darum
reichte es aus, ihn einmal von dieser Seite zu zeigen. Er ist ein
homme à femmes, der vielen Frauen unwiderstehlich ist, und dem alle
Frauen unwiderstehlich sind. Was heute schon nicht mehr das ganze
Leben der Frau ausmacht, macht noch das ganze Leben dieses Männ¬
chens aus. Schnitzler selbst ist längst über den Typus hinausgewachsen.
Die Eheleute in seinem „Zwischenspiel sind Erotiker bis über die
Ohren; zugleich sind sie geniale Musiker, die Frau nicht minder als
der Mann. Anatol aber verrät mit keiner Silbe, ob er eine menschen¬
ähnliche Existenz führt, geteilt zwischen die verschiedensten Interessen,
eine Existenz, in der die Liebe ihren Platz hat und nicht alles beherrscht.
Er kennt nur einen Gesprächsgegenstand: die Liebe. Himmel und
Erde bewegen sich für ihn nur um einen Pol: die Liebe. Er ist sich nur
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