II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 142

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4.9. Anatol - Zyklu-
Die Berliner Bühnen. 33 233
Die rücksichtslose, manchmal stilwidrige
er gelegentlich aus Originalitätssucht eine
Hofmannsthalsche Bearbeitung hat das
Sache gründlich verfehlt; der „Othello
Entsetzen aller Gymnasialobelehrer erregt. Meister Bassermanns z. B. war kein Mei¬
Und dennoch
sterstück; aber Else Heims bot als Desde¬
Der Kampf un. die Eintrittskarten ist mona eine poetische Leistung.) Wie Rein¬
eine Strapaze, billig sind sie auch nicht, in
hardt Licht und Ton und Tempo und Bild
dem halbdunkeln Haus kommt keine einzige
beherrscht, wie er seine Künstler und die
Damentoilette zur Geltung, nicht einmal
gewaltige Heerschar seiner Choristen unter
eine Pause unterbricht das Spiel, damit
seinen Willen zwingt, das ist bis jetzt nur
man die Bekannten hüben und drüben be¬
einmal dagewesen. Ein Richard Wagner
grüßen kann und selbst gesehen wird. Und
besaß die ungeheure suggestive Kraft, um
dennoch
ein großes Kunstwerk so durch alle techni¬
Die dramatische Wucht des Vorganges,
schen Hindernisse von Theaterschlendrian
die Spannung, die Steigerung bis zum
zum Sieg zu führen. Reinhard; macht¬
Niederbruch — die uralten Bedingun¬
volle Aufführung der Sophokleischen Tra¬
gen des Theaters, um die Aufmerk¬
gödie bildet einen Markstein in der Theater
samkeit einer bunt zusammengewürfelten geschichte. Paul Wegener als König, Tilla
Menge festzuhalten — sie zu unterhalten¬
Durieur als Jokaste, Eduard von Winter¬
sind hier eben erfüllt, und sofort belohnte
stein als Kreon haben unter ihrem kleinen
es sich. Fünf= bis sechstausend Menschen
großen Feldherrn die Regimenter zum
sind noch jeden Abend, an dem die uralte
Sieg geführt. Zum Sieg auch gegen den
Tragödie im Zirkus gegeben ward, in
anfangs noch blasiert lächelnden Snobis¬
atemloser Spannung dem wirren Schicksals¬
mus.
weg des von den Göttern gezeichneten Kö¬
Die erste Szene schon gewann die
nigs gefolgt. Sie glauben den unrealistischen Schlacht.
Voraussetzungen nicht und lassen sich den¬
Dumpfes Getös dringt von draußen her
noch packen. Und wenn zum Schluß des
in den völlig finster gewordenen Zirkus.
Spiels der geblendete König Odipus die
Posaunenstöße in der Ferne. Das Volk
Freitreppe von seinem Palast in die dunkle
dringt ein. „Die Gesichter zuerst am Rande
Manege des Zirkus hinabtaumelt, Abschied
rückwärts; dann unter dem Druck der Nach¬
von seinen Kindern nimmt, so geht es wie
drängenden fluten sie herein wie ein Gie߬
ein leises Schluchzen durch das ganze Haus.
bach; auf einmal ist der Platz bis an die
Nach all den kleinlichen, grämlichen
Stufen des Palastes überschwemmt mit
Stoffen des überwundenen Naturalismus ihnen. Ihre Augen sind auf die Tür ge¬
hat die Menge Hunger auf große Erschütte¬
richtet, ihre Lippen wiederholen wie eine
rungen.
Litanei: „dipus, hilf uns! Hilf uns,
Sie will wieder Theater!
König! Die schwere Tür des Palastes tut
Daß ein moderner Regiemeister wie
sich jäh auf. Eine Stille. Odipus tritt
Professor Max Reinhardt keine Meininge¬
heraus. Alle Arme recken sich zu ihm."
rei gibt, erst recht keine Kulissenreißerei, ist
Dieses Bild des von Pest und Hungers¬
klar. Er hat alle Schulen absolviert, kann
not heimgesuchten Volkes, dieser Hunderte,
seinen ehemaligen Lehrer Brahm schon
die die nackten Arme hilfeflehend zu ihrem
längst in die Tasche stecken, und die eng¬
König ausstrecken, gab mir die größte Büh¬
lischen Ausstattungskünste, auf die man nenwirkung, die ich je erlebt habe.
drüben eine ganze Season gründet, dienen
Tausenden erging es wie mir.
ihm nur als gelegentliches Hilfsmittel.
Schauspieler, Chor und Maschinerien,
Er hat den Stil einer großzügigen szenischen Haus und Regisseur sind da, um einer
Kunst gefunden. Er ist der größte Regis¬
großen neuen Theaterkunst zu dienen. Es
seur aller Zeiten. (Das hindert nicht, daß
fehlen nur die Stücke.