II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 161

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4.9. Anatol - Zyklus
Telephon 114
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burg, Toronto.
alors sans doute,
aus
1911
Kleines Feuilleton.
Frankfurter Schauspielhaus. Eine Reihe von
Fünfminuten=Dramen: — das ist unser Leben. Es scheint,
wir haben nicht die Zeit mehr, großkomponierte, weit und hoch
geschwungene Tragödien, recht nach der Regel mit Auftakt,
Steigerung, Kampf, Ermatten und neuem Kampf, mit Ta¬
und Sieg, zu erleben; wir begegnen uns in Trubel und Tau¬
mel, Ameisen des Großstadtpflauers, wir tauschen für Augen¬
blicke — die Uhr in der Hand — gleichgültig klingende Worte,
schon scheiden wir lächelnd, indes: ein leiser Nadelstich den
Schmerzes läßt, dem Dolchtich in der großen Tragödie gleich
uns plötzlich spüren, daß eben in unserem Leben ein Drame
gespielt hat, — fünf Minuten lang. Noch trauern wir ihm
zwei Minuten nach, — dann weiter, weiter!.. Der Dichter,
der vor bald zwanzig Jahren uns den Anatol-Zyklus
als sein seltsam reises Erstlingswerk geschenkt hat, kannte
unser Lebenstempo und wagte es, den knappen, kurzatmigen
Rhythmus dieser Tage der strengsten, größten Form der dich¬
tenden Kunst, dem Drama, aufzuzwingen. Und er durfte es
wagen. Da trifft dieser „leichsinnige Melancholiker Anatol
zwischen Fiakerlärm und Schaufensterglanz eine mondän
Frau, sie plaudern ein paar Minuten, sie fragen wie schei¬
gend ein nach dem Leben des andern, und wie sie aus¬
einandergehen, bleibt über dem Platze im Grau des Winter¬
abends eine dunkle Trauer hängen: Wir sahen eine kleine
Tragödie, besser, wir litten tief den Schmerz mit, daß unserm
Leben der Mut zum großen Erleben, zur großen Tragödie
fehlt. Doch noch etwas bleibt: Ueber dem Lichterprunk des
Stadtzentrums leuchtet von der Vorstadt her die Lampe einer
hohen Mansarde, leuchten die blanken Augen eines lieben,
süßen Mädels, das nichts von Lebensfeigheit, von komplizier¬
ten Konflikten weiß, das die Liebe nur als ein einziges star¬
kes Gefühl kennt: man hat es, oder man hat es nicht, und hat
man's, so zeigt man's. Wunderbar, wie hier über die zwe¬
mondinen Gestalten, den Mann und die Dame von Welt, die
holde Figur des süßen Mädels emporwächst, die gar nicht leib
haftig erscheint; wo der geistfunkelnde, mit halben Worten
spielende Disput der Beiden in nichts zerfallen muß vor den
einen Wort des Mädchens, das den Anatol wie eine Melodi¬
begleitet: „Ich bin so froh, daß ich dich wiederhab ... Wenn
endlich Frau Gabriele ihre Blumen dem Mädel schickt, wie
täten gern einen Haufen Veilchen hinzu; nie hat Arthu
Schnitzler den ewigen Typus des liebenden Mädchens au
dem Volke keuschen und — dankbarer verherrlicht, als hier
wo es selbst nicht dabei ist. Dieses ist der Einakter „Weih
nachteinläufe — die reinste, zarteste Dichtung de
Chilus, doch stark genug für die Bühne. Mehr nur ein Auf¬
takt, wiegt auf den Brettern die „Frage an das Schick¬
sal fast zu leicht. Es ist natürlich die große Frage aller
Liebe, die ventiliert wird: ob sich „wirklich treu sind. Das
heißt, die Untreue des Manne wird mehr oder minder sozu¬
sagen als Naturgesetz a priori angenommen; Untreue der
Frau — soll auch nicht gerade wider die Natur sein. Nur tut
es weh, dies aus dem Munde der geliebten Frau selbst bestä¬
tigt zu hören. Sehr fein, wie von den zwei Männern die
geplante Frage an das hypnotisierte Mädchen hin und her
gewendet und zugespitzt wird und wie Anatol sie endlich doch
nicht stellt, aus Furcht vor der Antwort. Aus Furcht vor kla¬
ren Entscheidungen — an der wir alle leiden (an der schon
Goethe gelitten). Aber im wohlbekannten „Abschied
de Regie und dem künstlerischen Beistand des Herrn
Soldenhoff, in einen sehr aparten Rahmen gestellt wor¬
den hinter dem lichten Vorhang, der zwischen einem ver¬
engerten Bühnenrahmen von grauem, schwarz=gesäumten Lei¬
nen sich teilte, taten sich intime Räume in gewählten Farben¬
tönen auf, und die Straßenszene mit den Silhouetten zweier
beschneiter Bäume und dem nur angedeuteten bunten Glanz
der Schaufenster hatte Stil und Stimmung. Daß Herr
Lengbach sozusagen ein geborener Anatol ware, wußte man
schon, seit er den Dr. Jura in Bahrs „Konzert, so überlegen
gespielt und gesprochen; in den Trios dieser fünf Szenen
spielte er die erste Violine in allen Lagen gleich fein und be¬
schwingt, ganz lebendiger Mensch in der Wehmut wie im
Lachen der Liebe. Den Cello=Part warmen Humors, w