II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 162

vom
Kleines Feuilleton.
— Frankfurter Schauspielhaus. Eine Reihe von
Fünfminuten=Dramen: — das ist unser Leben. Es scheint,
wir haben nicht die Zeit mehr, großkomponierte, weit und hoch
geschwungene Tragödien, recht nach der Regel mit Auftakt,
Steigerung, Kampf, Ermatten und neuem Kampf, mit Tod
und Sieg, zu erleben; wir begegnen uns in Trubel und Tau¬
mel, Ameisen des Großstadtpflasters, wir tauschen für Augen¬
blicke — die Uhr in der Hand — gleichgültig klingende Worte.
schon scheiden wir lächelnd, indes: ein leiser Nadelstich des
Schmerzes läßt, dem Dolchstich in der großen Tragödie gleich,
uns plötzlich spüren, daß eben in unserem Leben ein Drama
gespielt hat, — fünf Minuten lang. Noch trauern wir ihm
zwei Minuten nach, — dann weiter, weiter!.. Der Dichter,
der vor bald zwanzig Jahren uns den Anatol=Zyklus
als sein seltsam reres Erstlingswerk geschenkt hat, kann
unser Lebenstempo und wagte es, den knappen, kurzatmigen
Rhythmus dieser Tage der strengsten, größten Form der dich¬
tenden Kunst, dem Drama, aufzuwingen. Und er durfte es
wagen. Da trifft dieser „leichsinnige Melancholiker Anatol
zwischen Fiakerlärm und Schaufensterglanz eine mondane
Frau, sie plaudern ein paar Minuten, sie fragen wie scher¬
gend ein nach dem Leben des andern, und wie sie aus¬
einandergehen, bleibt über dem Platze im Grau des Winter¬
abends eine dunkle Trauer hängen: Wir sahen eine kleine
Tragödie, besser, wir litten tief den Schmerz mit, daß unserm
Leben der Mut zum großen Erleben, zur großen Tragödie
fehlt. Doch noch etwas bleibt: Ueber dem Lichterprunk des
Stadtzentrums leuchtet von der Vorstadt her die Lampe einer
hohen Mansarde, leuchten die blanken Augen eines lieben,
süßen Mädels, das nichts von Lebensfeigheit, von komplizier¬
ten Konflikten weiß, das die Liebe nur als ein einziges star¬
kes Gefühl kennt: man hat es, oder man hat es nicht, und hat
man's, so zeigt man's. Wunderbar, wie hier über die zwe¬
mondänen Gestalten, den Mann und die Dame von Welt, die
holde Figur des süßen Mädels emporwächst, die gar nicht leib
haftig erscheint; wie der geistfunkelnde, mit halben Worten
spielende Disput der Beiden in nichts zerfallen muß vor den
einen Wort des Mädchens, das den Anatol wie eine Melodi¬
begleitet: „Ich bin so froh, daß ich dich wiederhab ..." Wenn
endlich Frau Gabriele ihre Blumen dem Mädel schickt, wi
täten gern einen Haufen Veilchen hinzu; nie hat Arthu
Schnitzler den ewigen Typus des liebenden Mädchens au¬
dem Volke keuscher und — dankbarer verherrlicht, als hier
wo es selbst nicht dabei ist. Dieses ist der Einakter „Weih¬
nachtseinkäufe — die reinste, zarteste Dichtung de
Cyllus, doch stark genug für die Bühne. Mehr nur ein Auf¬
takt, wiegt auf den Brettern die „Frage an das Schick¬
sal fast zu leicht. Es ist natürlich die „große Frage aller
Liebe, die ventiliert wird: ob sie sich „wirklich treu sind. Das
heißt, die Untrer des Mannes wird mehr oder minder sozu¬
sagen als Naturgesetz a priori angenommen; Untreue der
Frau — soll auch nicht gerade wider die Natur sein. Nur tut
es weh, dies aus dem Munde der geliebten Frau selbst bestä¬
tigt zu hören. Sehr fein, wie von den zwei Männern die
geplante Frage an das hypnotisierte Mädchen hin und her
gewendet und zugespitzt wird und wie Anatol sie endlich doch
nicht stellt, aus Furcht vor der Antwort. Aus Furcht vor kla¬
ren Entscheidungen — an der wir alle leiden (an der schon
Goethe gelitten). Aber im wohlbekannten „Abschieds¬
souper, diesem Schwank voll frecher Grazie, knallen die
Erklärungen förmlich, Annie und Anatol übertrumpfen sich
in Geständnissen der Untreue, und den letzten Schuß feuert
die Frau; sie ist — unter Umständen — dem Mann in der
Treue über, aber auch im Betrügen gebührt ihr — unter Um¬
ständen — die Palme. Was ist den Treue? Anatols Treue
ist jedenfalls diese (und es ist vielleicht nicht die unedelste):
daß er keine von den Mädchen und Frauen, die er geliebt, je
vergißt, daß sie ihm ganz gegenwärtig sind, sobald nur die
Erinnerung die Augen aufschlägt, daß ihm heilig jede ist, in
deren Armen er gelegen, und daß die Stunden der Liebe ihm
unsterbliche Stunden bedeuten. Den geliebten Frauen manch¬
mal ja nicht, doch was ut's! Stärker als diese Pointe trägt
den Einakter „Episode eben die bitterfüße Lyrik wehmüti¬
gen Gedenkens, eine aus weltweiten Fernen klingende Musik
der Vergänglichkeit, wie sie das Ohr dessen vernimmt, der über
alten Briefen, welken Blumen und über Locken gebeugt sitzt
von denen er vielleicht nicht einmal weiß, um welches Haupt
sie einst wehten. Mit „Anatols Hochzeitsmorgen
erhebt sich schließlich der Zyklus zur echten Tragikomödie,
schlägt fast allerdings ins Groteske um. Hier spitzt sich das
Thema dramatisch am schärften zu; für Leute wie Anatol,
nicht wahr, muß der Hochzeitsmorgen eine Kata¬
strophe sein, zumal wenn eben Fasching ist und der Abschied
vom Leben und Lieben sich mit der Trauung in einen Vor¬
mittag zusammendrängt. Nun, Anatols weiser Freund weiß
auch dessen letzte verlassene Geliebte zu trösten: Sie ist nicht
die Betrogene, denn zu ihr kann man — zurückkehren. Das
klingt frivol, doch man braucht sich vor Schnitzlers, immer mit
schmerzlich zuckendem Munde gesprochenen Frivolitäten des
Lächeln nicht zu schämen; im Schauspielhaus ist gestern
sogar, und meist mit Recht, sehr kräftig gelacht und gejubelt
worden, und der ehrliche Applaus, der den „Weihnachtsein¬
käufen" gezollt wurde, verriet die tiefe Wirkung auch dieser
ernsten Szene. Das Ganze war aber auch, unter Herrn Dr.
4.9. Anatol - Zyklus
Heines Regie und dem künstlerischen Beistand des Herrn
Soldenhoff, in einen sehr aparten Rahmen gestellt wor¬
den: hinter dem lichten Vorhang, der zwischen einem ver¬
engerten Bühnenrahmen von grauem, schwarz=gesäumten Lei¬
nen sich teilte, taten sich intime Räume in gewählten Farben¬
tönen auf, und die Straßenszene mit den Silhouetten zweier
beschneiter Bäume und dem nur angedeuteten bunten Glanz
der Schaufenster hatte Stil und Stimmung. Daß Herr
Lengbach sozusagen ein geborener Anatol wäre, wußte man
schon, seit er den Dr. Jura in Bahrs „Konzert" so überlegen
gespielt und gesprochen; in den Trios dieser fünf Szenen
spielte er die erste Violine in allen Lagen gleich fein und be¬
schwingt, ganz lebendiger Mensch in der Wehmut wie im
Lachen der Liebe. Den Cello=Part warmen Humors, wissen¬
der Erfahrung, tröstender Begleitmusik meisterte Herr
Bauer, der sich nur vor allzu breiter und weicher Tongebung
hüten muß. „Und dann die kleinen Mädchen": Frl. Urban
(Cora) ein frisches süßes Mädel von einfachem Chick, Frl.
Wulf (Gabriele) eine elegante, vortrefflich sprechende Dame,
die in ihre vorsichtigen Fragen viel verhaltene Sehnsucht zu
legen wußte, Frl. Sangora als Annie im „Abschiedssouper
übersprudelnd vor frechem Ballettratten=Temperament, mous¬
sierend wie frisch eingeschenkter Sekt, Frl. Hartmann ein¬
flotte Bianca (die Gestalt selbst ist allerdings sehr schattenhaft)
und Frl. Irmen eine pikant kostümierte Ilona, die der
Schlußszene wirbelndes dramatisches Leben lieb. Wenn alles
vorübergerauscht ist — und es zog dank der Drehbühne des
Herr Schiro Bild für Bild rasch und glatt vorüber, wenn
das Lachen verklungen ist, bleibt in einem doch viel mehr als
eine lustige Erinnerung; es ist, als spräche der Dichter leise
und — weise: Liebe Leute, die Liebe ist etwas Heiliges, ganz
gewiß, aber nehmt sie nicht gar zu tragisch-schwer; das Beste,
was von ihr bleibt, ist die Erinnerung, und besser, eine Erin¬
nerung zu viel als zu wenig. Lernt ein wenig vom Rokoko —
das ist's auch, was Hugo v. Hofmannsthals Prolog /
predigt, den zu Anfang Herr Bolz zwar nicht hofmannstha¬
.
lisch lyrisch, aber sein pointiert sprach.
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