II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 184

box 8/6
4.9. Anatol
lus

Autoren bevorzugen müssen. Aber das Deutsche Schau¬
spielhaus richtet sich nach Berlin. Berlin bringt den ver¬
ballhornten „Pourceaugnac. Das Hamburger Schauspiel¬
haus tut es auch. Berlin versucht den Amphitryon Mythos.
Das Hamburger Schauspielhaus tut es auch. Berlin ser¬
viert: „Herr und Diener“, „Die drei Grazien", „Der Feld¬
herrnhügel“. Das Hamburger Schauspielhaus tut es auch
Berlin gräbt (Winter 1910) fünf Szenen aus dem „Anatol¬
Zyklus aus. Das Hamburger Schauspielhaus tut es auch.
Dagegen wäre nun gar nichts zu sagen, wenn sich diese
ornamentalen Randleisten den Hauptschöpfungen Arthur
Schnitzlers als ergänzende Arabesken anschließen würden.
Wo aber bleibt die Bewältigung der großen und neueren
Werke? Die „Lebendigen Stunden und das „Zwischen¬
spiel stehen seit einigen Jahren im Repertoire oder in den
Archiven des Deutschen Schauspielhauses. Damit ist das
Schnitzler=Besitztum dieser Bühne erschöpft. Nun hat man
uns vor wenigen Monaten den „Schleier der Beatrice" in
Aussicht gestellt. Aber aus nichtsbesagenden Gründen wird
der mehrfach angekündigte „Schleier" auf einmal zurück¬
gezogen und dem nächsten Spieljahre vorbehalten. Wofür
der „Anatol“ Ersatz bieten soll. Gibt sich der Ehrgeiz des
Deutschen Schauspielhauses mit Miniaturen zufrieden, wo
ein Freskogemälde versprochen und erwartet wurde:
Fünf Gespräche — fünf Beichten. Der Dichter zieht die
zierlichste Dionale durch jene tragikomische
Frauen¬
kennerschaft er als spielerisch überlegener Mensch
zwischen dem zwanzigsten und dreißigsten Lebensjahre er¬
worben. Gedankenstimmungen wechseln mit Stimmungs¬
gedanken. Das Verhältnis zum „Weibe" spiegelt sich in
nervösen Reflexen. Spitze Gesichtswinkel, stumpfe Gesichts¬
winkel ergeben psychologische Guckkastenbilder, die am
äußersten Ende eines langgestreckten Stereoskops in lieb¬
lich ernsten Dämmerfarben zu tanzen scheinen. Der Weib¬
Begriff schwankt zwischen den Konturen der anspruchslosen
Vorstadtmädchen, der begehrlichen Maitressen, der an¬
standssichtigen Halbweltdamen und der halbanständigen
Weltdamen. Ein Wiener Gourmand führt seine Amouren
vor. Er stöbert in lebendigen und fast schon zu Ende ge¬
schriebenen Liebesbriefen. Jeder Brief ist eine Frau mit
den naturwissenschaftlichen Merkmalen ihres besonderen Typs.
Und jeder Typ ist eine szenische Skizze, die knisternd und
duftend verbrennt. „Die Frage an das Schicksal", „Weih¬
nachtseinkäufe", „Abschiedssouper", „Episode, „Anatols
Hochzeitsmorgen" bilden in dieser summarischen Art einen
rätselhältigen Reigen. Inmitten der wirbelnden Kette
steht Anatol. Steht ein Pierrot im Frack. Er ist Melan¬
choliker und Optimist, Träumer und Realpolitiker, Frauen¬
lob und Zyniker, Troubadour und Büßer, Abenteurer und
Mönch, Kantianer und Nietzscheaner, Leichenbitter und Har¬
lekin, Totengräber und Auferstehungsapostel, Neurasthe¬
niker und Phlegmatiker, Philister und Genie. Geist und
Grazie bewegen den komplizierten und doch so einfältigen
Mechanismus dieses wienerischen Don=Juans. Aber man
fügt sich ohne Widerspruch der Stimmungsgewalt seiner
nachdenklichen Launen, weil er im Grunde das autobio¬
graphische Geschöpf eines echten, lieben und starken
Dichters ist.
Dieser Stimmungsgewalt, die den magischen Zauber des
Zwielichts hat, sucht das Deutsche Schauspielhaus sozusagen
„Me¬
bei hellem Tage beizukommen. Carl Hagemanns Regie,
die doch sonst stilistische Neigungen verrät, arbeitet diesmal
ganz ausschließlich mit naturalistischen Mitteln. Man
sieht vier kompakt gestellte Intérieurs, wie sie jetzt in der
„Ausstellung bemalter Wohnräume“ figurieren. Ueber
dem Kamin der ersten und der letzten Szene ist selbst
ein Hamburgisches Heidebild à la Schwinge oder de Bruycker
im Wohnraume des Wiener Junggesellen nicht vergessen.
Dazu gesellt sich im zweiten Stücke die verblüffende Nach¬
machung einer Wiener Straßengegend mit hinzugedichteten
Spaziergängern und Geschäftsschildern („Galanteriewaren
von Ed. Weishappel, Seife und Parfümerie von Franz
Brandhuber“). Auch ein regelrechter Wiener Fiaker (aber
ohne Zylinder) fährt zweispännig über die Bretter und
nimmt die Heldin eines fünfzehnminutenkurzen Bühnen¬
gesprächs auf. So werden „ausgesprochene Einakter aus
unausgesprochenen Dramen der modernsten oder intimsten
Zeitseele. Und die Galerie kann lachen. Die Darsteller
und Darstellerinnen gehen energisch ins Zeug. In
erster Linie Heinrich Langs Anatol, der nur noch eine
intensivere Ueberlegenheit, eine höhere Grandezza ge¬
winnen muß. Hermann Wlachs übertriebene Milnik
versagt und läßt Robert Nhils diskrete Meisterkunst her¬
bewünschen. Eugenie May, Elsa Valéry, Marie Elinger
und Tony Heydorn schaffen die unmanierlichsten und
pikantesten Weiblichkeiten. Nur Olla auers köstliches,
aber ungezügeltes Temperament schlägt über sämtliche
Anton Lindner.
Strange.