II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 191


die Benefizianten, teils aus anderen Rücksichten
sich veranlaßt sieht, ein Gastspiel Prager Künstler,
deren Namen weder ein Programm bedeuten, noch
eine außerordentliche Kunstleistung verbürgen, dazu
eine absterbende Saison knapp vor der Osterwoche
und dennoch ein volles, erwartungsvoll gestimm¬
tes Haus dessen Anblick ein sichtliches Interesse für
die Sache verrät! Das ist wohl alles auf das
Konto Schnitzler's zu buchen, des Dichters, der den
intimen Reiz der Dinge und Personen, die er
dem Leben entnimmt, um sie dramatisch zu ver¬
werten oder, besser gesagt, in ihrem eigentlichen
Wesen in das Drama einzuführen und hier bild¬
nerisch zu gestalten, durch den Glanz des feinge¬
schlissenen Dialogs erhöht. Aus dem Anatol¬
Zyklus von dessen fünf Bühnensstücken Donnerstag
zum erstenmal an unserem Theater vier aneinander¬
gereiht über die Szene gingen, war hier bisher nur
„Abschiedssouper" gegeben worden, und es ist viel¬
leicht bezeichnend für die Darstellung, daß gerade
dieses am vorgestrigen Gastspielabende an zweiter
Stelle gegebene Stück die stärkste Wirkung erzielte
und gewissermaßen erst bewirkte, daß die vorher
noch erwartungsvolle Spannung im Publikum einer
wärmeren Stimmung Platz machte. Frl. Me¬
delsky gab die Annie mit einem Humor, der die
naive Unbekümmertheit des „füßen Mädels" am
eine ernstere Lebensauffassung nicht aus der derben
Urwüchsigkeit des Naturells herausströmen, sondern
in einer kultivierten, verfeinerten Form erstehen
ließ, die mit einer großen Natürlichkeit das rein
technische Moment glücklich vereinigte. In dieser
Beziehung war der allmählich, deutlich sichtbare
Übergang von Annies Stimmung in die Region
der „Beschwipstheit besonders bemerkenswert. In
„Anatols Hochzeitsmorgen geb. Frl. Medelsky
die Ilona mit starker realistischer Betonung und
der Kraft eines leidenschaftlichen Talentes.
Glasel war in „Episode" als Zirkusreiterin
Bianca besonders gut. Gartenschauliche
sowohl den Gegensatz der Anschauungen zwischen
dieser „Bibi und allen ihrer Genossinnen und dem
lebensfrohen und doch schwärmerischen Anatol sehr
treffend; noch besser kam ihre schöne Begabung in
dem sinnigen Ausdruck zur Geltung, den ihre Miene
und ihre Worte bei den Reminiscenzen verriet, die
Max von ihrem Petersburger Aufenthalt bei ihr
erweckt. Wenn wir auf die eigentlichen Träger
des Anatol-Zyfus, den Vertretern des Anatol und
Max, erst in zweiter Reihe zu sprechen kommen, so
mag dies seine Begründung darin finden, weil wir
deren Darstellung auch nach dieser Rangfolge be¬
urteilen möchten. Herr Tiller vermittelte die
Worte des Dichters mit dem vollsten Verständnis
ihres Inhaltes, wodurch der Darsteller om sicher¬
sten den Weg zu jenem des Hörers findet, aber
sein Anatol ist mehr Philosoph als Lebensgenießer,
die behagliche, beinahe phlegmatische Breite, die sich
in Herrn Tillers Spiel offenbart, paßt nicht
so recht zu dem im Grunde doch heiteren Charakter
des Anatol. Herr Huttig war in seiner ruhigen
Überlegenheit sehr wirksam. Zuerst war der Ton¬
fall seiner Rede ein wenig befremdend, aber später,
als dieselbe die leichte Färbung des Wienerischen
zeigte, war diese nicht recht goutierbare Sprachweise
verschwunden und die Darstellung hielt sich auf be¬
deutender Höhe. Sie blieb auch, auf den Kern des
Wesens der zu verkörpernden Figur gerichtet, ein¬
heitlich den ganzen Abend hindurch. Die Darsteller
wurden von dem sehr zahlreich anwesenden Publi¬
kum mit lebhaftem Beifall bedacht. Die Regie, für
die Herr Dr. Paul Eger zeichnete, führte den
Zuschauern in jedem Stücke ein Bild von ebenso
geschmackvoller Inszenierungskunst, als intimer
Wirkung vor.
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4.9. Anatol - Zy

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burg, Toronto.
(Quellenangabe ohne Gewähr.)
Ausschnitt aus:
Mor¬
Deutsche Zeitung, leh-Schönau
vom

Theater und Kunst.
Anatol.
Vier Gäste aus Prag vermittelten uns den
Genuß von vier Einaktern aus Schnitzlers. Zyk¬
lus „Anatol“. Auf die Erzielung charakteristischer
Innenräume durch Verkleinerung der Bühne hatte
man nicht hingearbeitet. Doch wurde durch ge¬
schmackvolle Verteilung des Mobiliars und durch
gedämpfte Beleuchtung die Einfühlungsmöglichkeit
so weit gegeben, daß die intime Wirkung nicht
ausblieb. Und die Darsteller taten das ihrige, um
den Rahmen dieser Stimmungsbilder nicht zu
sprengen. Wir haben nicht Dramen mit äußer¬
licher Handlung vor uns, sondern Situationen,
deren Stimmungsgehalt vom Dichter bis zur
Neige ausgekostet wird. Am reinsten tritt dies in
der „Episode hervor. Schnitzler vereinigt in sich
den durchdringenden Späherblick des Arztes mit
dem höchst kultivierten künstlerischen Empfinden
des Stimmungsmenschen. Diese Züge des Dich¬
ters leben in Anatols Gestalt auf. Eine andere
Seite seines Inneren, die unausgesetzt wache
Selbstbeobachtung, die mit einem stillen Lächeln
Kritik übt, ist zum Teil in Max verkörpert. Die
Frauen dieser Stimmungsbilder sind durchwegs
typische Wiener süße Mädels, mögen sie dieser oder
jener Gesellschaftsschichte entnommen sein und
demgemäß in verschiedenen Farben schillern.
In der „Frage an das Schicksa
det Anatol nicht den Mut, sein Liebchen Cora, das ma
er in Hypnose versetzt hat, zu fragen, ob sie ihm
treu sei. Er zieht es vor, sie mit Zweifeln um
erzen zu lieben, und erweckt sie. Im „Ab¬
chiedssouper gibt nicht Anatol seiner An¬
ie den beabsichtigten Abschied, sondern er selbst
wird verabschiedet. Am flüchtigsten huscht die
Episode“ an uns vorbei, ein Schmetterling.
Anatol muß erkennen, daß die Liebesstunden mit
Bianca, die ihm nur Episode geblieben waren,
auch für die Frau nur die Bedeutung eines verges¬
senen Intermezzos haben. Die heikle Situation
in „Anatols Hochzeitsmorgen" wird
durch die sehr behutsame Dichterhand für die
Szene gerettet. Der Held wird uns nach einer
durchtollten Nacht gezeigt, nach der Nacht, die sei¬
nem Hochzeitsmorgen vorangeht. Es bleibt der
Stachel, daß einem Menschen Unrecht geschieht.
Die Wirkung ist nicht so ungetrübt wie bei den
drei anderen Einaktern, die reine Freude über