II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 240

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4.9. Anatol
Zykl

Wie schon angedeutet, war der Einakter falsch besetzt. Das
rue
Stück braucht, um wirken zu können, das warme Kolorit der
Wiener Sprache, denn nur in Wien u. nur in dieser Sprache können
tseinkäufe
ein Herr und eine Dame der großen Welt so offen, so leicht und
ma: „Lottchens
doch so ernst über dieses nicht salonmäßige Thema plaudern.
Herr Baumbach, der den Anatol gab, bemühte sich zwar,
dem feierlicheren
wegnerisch zu sprechen, aber es gelang ihm nicht; Frl. Noor
sitten sich gestern
man verzichtete als junge Frau ganz darauf. So wurde das
ler, Otto Erich
feine Zwiegespräch seines wahren Charakters entkleidet und er¬
Waffen, die
zielte darum nicht die Wirkung, die es eigentlich verdient hätte.
zen, waren nicht
Der Einakter schrie ja förmlich nach Frau Ermarth und Herrn
kurzem Einakter
Herz. Wenn diese beiden auch am Dienstag die Penthesilea und
kam infolge
den Achill spielen müssen, dies kurze Zwiegespräch hätten sie ge¬
Es gab aus
wiß auch bewältigen können. Oder man hätte die Aufführung
side Zwiegespräch
besser auf später verschieben sollen, lieber als daß man das graziöse
bend treffen sich
Stückchen totspielte.
me und ein Herr
Ein Stück aus Otto Erich Hartlebens „Studentenpoesie“ kam
geladen heimeilen
dann an die Reihe. Nach dem lieben süßen Wiener Mädel das
um seinem Mädel
waschechte mund= und schlagfertige Berliner „Verhältnis“, die be¬
sommt das Ge¬
rühmte Lore, um deren Gestalt der ewige Student Otto Erich
und des unver¬
einen Kranz seiner schönsten Gedichte geschlungen hat. Der Ein¬
te Mädel“. Mit
akter „Lore" ist die dramatisierte Geschichte vom abgerissenen
was hochmütigem
Knopf, die ja wohl jeder Gebildete wie den „Gastfreien Pastor
der Vorstadtliebe,
einmal gelesen hat. Die Aufführung war vorzüglich. Schon die
langsam bei der
Einrichtung der möblierten Studentenbude war köstlich stilgerecht.
t dem ihr einstiger
Ausgezeichnet in Sprache und Stil war Herr Hugo Höcker als
Verständnis da¬
steifleinener Vetter, der das Sein oder Nichtsein eines „soliden
telten Verhältnis
Verhältnisses auf einen anzunahenden Blusenknopf gründet. Von
Liebe. Sie hatte
frischender Echtheit, Anmut und Natürlichkeit war die Lore
r sein Mädel zu
des Frl. Müller. Den Höhepunkt erreichte ihr Spiel, als
hr sie daran, daß
sie dem entrüsteten Vetter auseinandersetzte, es sei besser, ein
nuß nach Hause.
Knopf sei los, als eine — Schraube. Gut waren dann auch Herr
rasch entschlossen
Krones als „der Kleine“ und Herr Pleß als Fred.
für sein Mädel
Den Schluß des Abends bildete Ludwig Thomas erst
ihr sagen:
vor kurzem bei Langen erschienenes Lustspiel „Lottchens Ge¬
dir eine Frau, die
burtstag“. Es soll eine Satire auf das Problem der
en Mut dazu nicht
sexuellen Aufklärung sein. Der welt= und menschenfremde Uni¬
versitäts=Professor Giselius hat es sich in den Kopf gesetzt, seine
glückes liegt in
Tochter Lotte an ihrem zwanzigsten Geburtstag in die Geheim¬
sieht Anatol dem
nisse der Ehe einzuweihen. Seine Verschrobenheit und Ungeschick¬


lichkeit führt dann zu einem ebenso komischen wie für die Be¬
teiligten peinlichen Auftritt mit dem gleichgearteten Bräutigam
in spe, dem Privadozenten Dr. Appell, den der besorgte Vater
gleichfalls „aufzuklären“ für seine Pflicht hält. Schließlich aber
löst sich alles in Wohlgefallen, in einer Verlobung auf, und dem
Professor fällt ein Stein vom Herzen, als seine Tochter mit dem
gesunden Freimut eines modernen Mädchens erklärt, daß sie
heimlich einen Hebammenkurs mitgemacht habe.
Gegen die vorhergegangenen dichterisch feinen Stücke wirkte
„Lottchens Geburtstag derb und plump. Trotzdem brachte es
dem Verfasser den stärksten Erfolg des Abends ein, denn Ludwig
Thoma kennt sein Publikum. Das Stück streift oft hart an die
Grenze dessen, was auf einer guten Bühne gesagt oder angedeutet
werden darf. Das halb enthüllte Pikante reizt und wirkt und
darauf hat Thoma in der Hauptsache spekuliert. Der Dialog ist
mit raffiniertem Geschick bis an die entscheidenden Worte geführt,
gesagt werden sie aber nicht, nur in die Ohren getuschelt oder
in letzter Verlegenheit unterdrückt, aber so, daß sie der Hörer
erraten muß. Darauf beruht der Lacherfolg von Thomas Ein¬
akter, der, wie angedeutet, ein Meisterwerk geschickter Theater¬
mache ist. Die Gestalten sind auch nach dem Geschmack des
Publikums gezeichet. Vor allem der Professor Giselius, der ge¬
nau so aussieht, wie das Bild, das sich die große Masse von einem
verdrehten Universitätsprofessor macht, nach den Witzen der
„Fliegenden Blätter" und des „Simplizissimus". Herr Dapp¬
gab dann die Figur noch um einige Grade derber und ein¬
fältiger, sodaß der Titel „Kapazität", mit dem der Professor von
seiner Umgebung öfters belegt wurde, auf diesen Mein wirklich
nicht paßte. Die Gestalt hätte bedeutend seiner und distinguierter
gegeben werden sollen. Das gleiche gilt von dem Privatdozenten
des Herrn Rex, der so unscheinbar und kümmerlich war, wie ein
verhungerter Dorfschullehrer, auch natürlich nur nach dem Bilde
der Witzblätter. Gut war die Professorin der Frau Pix, die
auch von dem Dichter zu gewöhnlich gezeichnet ist. Vortrefflich
hat Frau Frauendorfer die kleine Rolle der Cölestine durch¬
geführt, wie Frl. Holm die der Lotte. Nicht unerwähnt darf auch
das famose Dienstmädchen von Frl. Genter bleiben.
Es ist mir völlig unbegreiflich, wie Eltern Kinder
solche Stücke schicken können, ohne sich vorher über
deren Inhalt zu vergewissern. Jede Zeitungsredaktion und die