II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 245

4.9. Anatol - Zyklu-
box 8/6
Dr. Max Goldschmidt
Bureau für
Zeitungsausschnitte
Berlin N. 24
Telephon III, 305.
Ausschnitt aus
eben
antaa 23
Ein Schnitzler=Abend.
Die freie literarische Ge¬
sellschaft Darmstadt erlebte gestern die große Genugtuung,
zur Aufführung des „Anatol-Zyklus von Arthur Schnitz¬
ler trotz der gleichzeitigen Première einer Operette von Lincke
(die sich im Großh. Hoftheater abspielte) den Mathildenhöhsaal
voll besetzt zu sehen. Ein gewiß erfreuliches Zeichen und eine
Beruhigung für den Literaturfreund, daß Darmstadt also doch
wohl über ein Publikum verfügt, das, wenn man ihm eine feine
literarische Kost bietet, diese mit großem Interesse und dankbar
genießt. Das Handlungsprofil dieser fünf Einakter dürfte als
bekannt vorausgesetzt werden: in diesen dramatisierten Feuille¬
tons entwickelt Schnitzler aus dem erdhaftsüßen Wiener Boden
und Milieu heraus ebenso viele amourse Intermezzi des Typus
Lebemann — Anatol — und beleuchtet dabei schlechthin das
Verhältnis der Geschlechter. In humorvoller, liebenswürdiger,
gar nicht wedekindisch=beschwerter Art. Wir geleiten diesen Ana¬
tol von dem Auftakt, „die Weihnachtseinkäufe an, da ihn bei
der Begegnung eine von ihrem Gatten unverstandene schöne Frau
in leiser Webmut um den Besitz eines Mädels beneidet, die den
unbewußten Mut zur freien Liebe hat, der ihr fehlt — über
mehrere Etappen seiner flatternden Blütenlese zu einem formel¬
len Wendepunkt seines Verhältnisses zum Weibe: seiner Ver¬
heiratung. And diese Etappen sind: Cora (Frage an das
Schicksal), das süße Mädel, von dem Anatol (wie übrigens von
jeder seiner Amouren) glaubt, daß sie ihn wirklich liebt. Sein
Freund Mar, der Philosoph, sucht ihm das auszureden. Aber
zu der entscheidenden Frage, die ihn Cora in der Hypnose be¬
antworten könnte, kann er sich nicht entschließen. Dann Bibi¬
Bianca, die herbe. Sie war eine Episode. Sie hatte er nur
einmal gesehen und gesprochen und blieb ihm als ein reines
Idealbild im Gedächtnis. Leider zerstört sie diesem liebeserfah¬
renen aber doch so weibunkundigen Anatol alle Illusion, da sie
ihm jetzt bei Freund Mar als Zirkussee entgegentritt. Auch von
dieser Illusion bleibt also nur ein kleines Briefpäckchen und
ein bitterer Geschmack. Dann kommt das „Abschiedssouper, hier
in Darmstadt schon öfters aufgeführt, dieses moussierende, lau¬
nige Capriccio — in dem Anatol von dem Naturkind Annie,
dem süßen Goscherl, das ewig Hunger auf Essen und Hunger
auf Liebe hat, den gar nicht schlechten Abschied erhält. Endlich
„Anatols Hochzeitsmorgen". An dem selbst ist er so gar nicht
allein in seinem Junggesellenheim. Die feurige, tokayerblütige
Ilona droht ein ernstes Hindernis zu werden, Freund Mar hilft
auch hier den Bedrängen, und mit einem der besten Worte
humorvoller Lebensphilosophie schließt er den tollen Spuk: Zu
Ihnen, liebes Kind, kann man zurückkehren. Die anderen kann
man verlassen. Anatol betrügt Sie also wirklich nicht, wenn
er heiratet
und das leuchtet ihr ein......
Die Aufführung durch das Ensemble des Frankfur=
ter Schauspielhauses verdient das höchste Lob: waren
doch bis auf Anatol (allerdings: just Anatol, dieser Typ vom
Kärnthnerring=Corso zwischen 12 und 1 mittags) alle Darsteller
Kinder der Wiener Arquelle von Schnitzlers seinen Stücken!
Voran Marianne Wulf, die als mißverstandene Frau von
höchster Distinktion war und die Gefühle für Anatol gleichsam
mit Halbtönen andeutete, um als Bianca und gar Ilona ihr
großes Temperament, immer in gestethischen Grenzen, auszu¬
leben. Dann Grete Ilmals süßes Mädel Cora und besonders
im Abschiedssouper als Annie von hinreißender Laune. Der ganze
Zauber Wien und seiner Frauen war in diesen beiden Dar¬
stellerinnen gegeben. Herr Dr. Ingo Krauß ist sicher ein
feiner Spieler. Aber doch fehlte ihm das gewisse undefinierbare
Etwas — das Lokalkolorit nicht bloß im Dialekt, sondern im
Wesen, in der Geste. Arthur Bauer als Max klassisch. Trotz
mancher Extempori. Ein Sprechkünstler ersten Ranges. Die
Grenze zwischen Natur und Kunst schwer festzustellen. Für die
Szenen zeichnete zwar nicht offiziell, aber doch nicht unbekannt
Herr Otto Stockhausen. Sie war ganz im Geschmack
Schnitzlers. Mit wenig Mitteln, vom Hause Ludwig Mül¬
ler gestellt, viel erreicht. Der Erfolg des Abends war ein un
bestrittener. Nach Abschiedssouper und Hochzeitsmorgen befrei
ende Beifallsstürme. Diese Künstler sollten bald wieder kom¬
men und wieder Schnitzler oder auch Dörmann bringen.