II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 384


Theater und Kunst.
ernsten menschlicher Probleme dienstbar zu machen,
wie dies im „Weiten Land“ geschieht, nimmt
Schnitzler eine führende Stelle ein, und deshalb ist
Schauspielhaus.
es, auch wenn man ihn im Sinne des Gesagten
Schnitzler-Feier anläßlich des 50. Geburtstages de¬
nicht als deutschen Dichter gelten lassen kann und
Dichters am 15. Mai 1912.
will, erfreulich gewesen, daß sein fünfzigster Ge¬
Artur Schnitzler ist vielleicht noch weniger als
burtstag an fast allen deutschen Bühnen und auch
Heinrich Heine im eigentlichen Sinne ein Deutscher
bei uns würdig gefeiert worden ist.
aber er ist ein großer jüdischer Dichter mit allen
Den gestrigen Abend füllten die vier Einakter
Eigentümlichkeiten seiner Rasse und vor allem ist
„Die Frage an das Schicksal“, „Weihnachtsein¬
er auch ein Wiener Dichter. Denn er hat die „Lie
käufe", „Abschiedssouper" und „Anatols Hochzeits¬
belei“ geschrieben. Wenn einmal jemand daran
morgen" aus der Anatolserie. Sie sind für Graz
gehen will, eine Psychologie Wiens an der Wende
nicht neu, doch aber ist diese Wahl als eine glück¬
des 19. und 20. Jahrhunderts zu arbeiten, so wird
liche zu bezeichnen, denn neben der „Liebelei“ zählen
er neben Weininger an Schnitzler wohl die er¬
sie zu Schnitzlers charakteristischesten Werken. Auch
giebigste Quelle zur Darlegung der Pathogenie der
hier klingen echt wienerische Akkorde an, bald im
Wiener Volksseele finden. Schnitzler reflektiert in
Moll des sentimentalen Volksliedes, bald im
seinem Schaffen das absterbende Wienertum und
hüpfenden Walzertakt; man atmet Praterduft, steht
die Ursachen dieses Absterbens klarer, überzeugen¬
im Schatten des Stephansturmes und aus dem
der, schleierloser als irgend ein anderer, und er
Dunst der Großstadt lächeln die entzückenden Wiener
gescheint hiezu prädestiniert, weil er Jude und
Grisetten, die ja erst Schnitzler literarisch typisiert
doch auch bodenständiger Wiener ist. Hierin liegt
hat. Oberflächliche Kritik könnte diese kleinen
sein Konflikt und hierin liegt auch der Schlüssel zu
Dinger unbedeutend nennen, aber sie täte damit
all dem scheinbar Rätselhaften in seiner menschlicher
unrecht, denn jedes von ihnen liefert ein liebevoll
und künstlerischen Persönlichkeit. Denn an diesem
beobachtetes Genrebild, und der neben einigen
bodenständig gewordenen Wiener Judentum hat
Franzosen nur noch von Bahr erreichte glitzernde
Wien sich selbst verloren, und niemand vermag
Plauderstil gleicht an Grazie jenen Grisetten.
diesen Verlust treffender zu kennzeichnen als jemand
Die Aufführung verdient bis auf einige Ein¬
der ihn unbewußt so energisch fördern half wie
gelheiten alles Lob. Sie war zunächst nicht nur für
Artur Schnitzler. Gleich vielen anderen seiner
Artur Schnitzler, sondern auch für Lori Weiser
literarisch tätigen Stammesgenossen hat er das
ein wahrer Ehrenabend, die in den drei „süßen
ganze ehemalige Wienertum in sich eingesogen
Mädeln“ Kora, Annie und Ilona wieder einmal
und er gibt es wieder als ein Zwitterding, das ein gutes Stück ihres ureigensten Wesens ausleben
nur einmal anders als rein äußerlich an die zeu¬
konnte. Und wenn sie das kann, strömt die sichtliche
gende Scholle mahnt; an diese Scholle, die inzwischen
Freude an ihrer fröhlichen Kunst auf das ganze
unfruchtbar geworden ist und von der fast nur
Haus über, sie freut sich in ausgelassenster Laune
mehr an Grünzeugständen und in Hausmeister an dem Publikum, das sie in ihrer Macht weiß, und
wohnungen ein paar letzte, auch ohne fremden
das Publikum freut sich mit ihr Vorsteller und
Dünger noch tragfähige Krumen übrig geblieben Zuhörer fließen da sozusagen zu gemeinsamem
sind. Es liegt eine seltsame Ironie darin, daß ge¬
Wirken ineinander, und das schafft erst den wirk¬
rade ein Jude diese letzten Reste treulich ge¬ lichen Theatergenuß. Vor allem war die Annie
sammelt und daß gerade er es verstanden hat, ihre
im „Abschiedssouper, die sie zu ihren besten Rollen
Keime der Kunst dienstbar zu machen. Schnitzler hat
zählen darf, ein kleines Kabinettstück, welches auch
ja die „Liebelei“ geschrieben, er hat sie geschrieben, die Niese in ihrer glücklichsten Zeit nicht lebens¬
während Lueger und Konsorten das gefeierte frischer zu geben hatte. In den „Weihnachtsein¬
Wiener Herz an Kerzelweiber männlichen und
käufen", spielte Alice Gerald die Gabriele.
weiblichen Geschlechtes verschacherten
Und Naturgemäß mangelte ihr die hier unerläßliche
noch etwas gibt es, das ihn fast allen anderen Mit¬
Wiener Note, die noch kein norddeutscher Dar¬
gliedern der „Jungwiener Gruppe gegenüber
steller echt anzuschlagen verstand, im allgemeinen
adelt; er hat seine Kraft immer den eigenen inneren
bot jedoch auch sie wieder eine vortrefflich aufgefaßte
Impulsen dienstbar erhalten, er hat sie niemals Gestalt von großer Liebenswürdigkeit und Lebens¬
auf den Tantiemenmarkt geworfen, auf welchem wahrheit. Louis Neher ist kein Anatol. Was er
gerade aus seinen Kreisen schon so manches viel¬
brachte, war wie immer eine an sich interessante,
versprechende Talent vergendender Prostitution
geistvoll durchgearbeitete schauspielerische Leistung,
verfiel.
aber man hatte nicht den jungen, sinnesfrohen
Dagegen hat sich Schnitzler viele Sympathien
Schwärmer vor sich, der überlegungslos immer nur
dadurch verscherzt, daß er sein Können auch zu so
der Augenblicksstimmung seines Herzens gehorcht,
ausgesprochenen Racheakten mißbrauchte, wie sie
der immer der Liebe, aber niemals einem Weibe
„Freiwild", „Leutnant Gustl und teilweise auch
treu bleibt. Ab und zu, so namentlich in den Weih¬
noch der „Ruf des Lebens darstellen. Er mag nachtseinkäufen", mahnte Neher an Korff, und
persönlich als Militärarzt, als jüdischer Militär¬
stand man dem Schnitzler'schen Anatol gegenüber,
arzt, viel vom Offizierskorps zu leiden gehabt im übrigen aber fehlte der Figur die weiche Emp¬
haben, und das bot ihm Anlaß, einen ganzen Stand
findsamkeit, die innere Wärme, und störend wirkte
herabzusetzen, dem er selbst noch angehörte. Auch auch der seltsame Dialekt. Ganz reizend fand sich
sonst tritt in seinen Werken hin und wieder das
Alfred Wehle mit der vorwiegend passiven Be¬
semitische Element aufdringlich hervor — es sei
gleitrolle des harmlosen Mox ab: da pulsierte
nur an seinen „Weg ins Freie" erinnert
aber wieder unverfälschtes Wiener Blut. Das ausver¬
er hat auch drei Werke von reinster Schönheit ge¬
kaufte Haus befand sich in bester Stimmung und
schaffen, die ihm für immer einen Ehrenplatz in der
überschüttete die Darsteller mit Beifall.
Literatur sichern: Die „Liebelei", den Einakter „Die
E. P. P. Dombrowski.
Frau mit dem Dolche und die Novelle „Sterben
Die „Liebelei“ ist in ihrer Art ein unübertroffenes
Meisterwerk; es ist noch keinem Dramatiken ge¬
lungen, eine einfache Liebestragödie, wie sie der
Alltag unzähligemale gezeitigt hat und immer
wieder mit sich bringt, in so schlichter,
natürlicher und deshalb trotz des Mangels
an irgend welchen neuen Gesichtspunkten und