II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 385

4.9. An
charakteristischen der Grafen
in der Luft strampelt,
gründete, andererseits aber auch das Wiener „füße Mä
del“, das durch Schnitzler eigentlich erst für die Bühnenes und jeder Geste un
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Zyklu-
Das Publikum, das
entdeckt wurde, dort heimisch gemacht hat. Die in ihrer

Pausen aus der Stimm¬
ganzen Gestaltung merkwürdig reife Jugend Dichtung
freundlich für den Aben
— sie ist bereits im Jahre 1902 erschienen und
jetzt also zwanzig Jahre alt — trägt schon all
Züge von Schnitzlers literarischem Charakter
scharf ausgeprägt an sich: seine sichere Beobachtung der
Wirklichkeit, seinen ausgesprochenen, aber durch ein wei¬
ches Stimmungselement gemilderten Naturalismus,
seine Vorliebe für das rauschende Großstadtleben Wiens
mit seiner sinnenfreudigen, schwülen Atmosphäre und
endlich seinen geistvollen Feuilletonismus, der sich am
liebsten in den kleinen Formen der dramatischen Skizze,
ausgibt. Der Zyklus besteht aus einer glänzenden Folge
von in sich abgeschlossenen Augenblicksbildern aus dem
Dasein eines Lebemannes, dessen Widersprüche und in¬
nere Unwahrheit er mit sprühendem Humor ans Licht
bringt. Ohne von allzu viel Handlung belastet zu sein,
sind es fast mehr Dialoge, in denen zwei Freunde über
das Thema „Liebe" disputierten, und jedesmal eine Frau
durch Haltung und Benehmen den Streit entscheidet.
Aber die Dichtung geht nicht auf in der komischen Spie¬
gelung des großstädtischen high life. Ihre Lustigkeit
hat einen ernsteren Hintergrund, denn die Szenenreihe
entwirft das Bild einer unter der Herrschaft der Mo¬
derne weit verbreiteten Krankheit, die darin besteht, daß
man in einer Sensibilität, die wehrlos jedem Eindruck
preisgegeben ist, das Kennzeichen einer vornehmen Na¬
tur und die Garantie eines verfeinerten Lebensgenusses
sieht. Schnitzlers Anatole ist ein Schwächling dieser
Art, der stolz auf seine Schwäche ist. Nicht stark genug,
seine Leidenschaft zu zügeln, als Zögling einer hohen
Kultur zu reich und zu sein organisiert, die Liebe
obenhin in gedankenlosem Genießersinn, wie sein Freund
Max, zu genießen, läßt er sich durch ein gesteigertes Be¬
dürfnis nach immer neuen farbigen Eindrücken vom
Leben in verzehrender Hast von einer Liebe in die an¬
dere treiben, bis er, was uns die heutige Auswahl aus
den sieben Einzelbildern des „Anatole leider
vorenthielt, im letzten Stücke sich mühsam in den Armen
eines leidenschaftlichen Weibes anträgt, um, erschöpft
und kraftlos geworden, im Fühlen und Wollen, in eine
konventionelle, von vornherein zerrüttete Ehe zu wanken.
Es ist schade, daß man nicht noch oder wenigstens statt einem
der aufgeführten Einakter den „Hochzeitsmorgen" uns ge¬
boten hat, der ganze Abend hätte dadurch eine schärfer
ausgeprägte Note, ein Ziel, seine eigentliche Pointe be¬
kommen. Immerhin waren es auch so genußreiche
Stunden, ein Schmaus für Auge und Ohr, denn es
lebt in den Stücken eine Weichheit der Empfindung,
eine Grazie des Ausdrucks, eine Ungezwungenheit und
Nonchalance und nicht zuletzt eine Echtheit des Kolorits,
wie wir sie vordem nur den Franzosen zutrauten
Und die Aufführung mühte sich, mit sehr gutem Erfolg,
ein Spiegel dieser Stimmung zu sein, sowie äußerlich
das Kolorit so echt wie möglich wiederzugeben. Herrn
Müller=Heintz als Spielleiter gebührt dafür
Klose & Seidel
vollste Anerkennung. Die Interieurs hatten alle einen
so feinen, intimen Reiz, boten so glänzende Rahmen
Bureau für Zeitungsausschnitte.
für die geistreichen Plaudereien und amüsanten Ge¬
schehnisse, daß eins das andere hob. Das Lob trifft
Berlin NO. 43, Georgenkirchplatz 21
noch viel mehr für die äußere Herrichtung des zweiten
Bildes zu, ein Straßenbild mit Gassen und Gäßchen,
mit rieselnden Flocken und haftig eilenden Passan
(Lest die meisten Zeitungen und hat das
ten voll Winterstimmung und Weihnachtswonne, und
besterganisierteste Bureau Deutschland)
— mit einem eleganten, veritablen Auto, in das
mit elegantem Schwung Lotte Horst verschwand, wäh¬
rend der Chauffeur ankurbelte...
In einem Punkte freilich haperte es etwas: Der
Landesztg.
Anatol Zyklus wurzelt so tief in wienerischer Erde, daß
Zeitung
er eigentlich nur von echten Wienern — wobei nicht nur
der Dialekt, sondern auch die ganze leichte Wiener Le¬
Braunschweig
bensauffassung zu verstehen ist — gegeben werden kann.
Ort:
Ist das bei uns in Norddeutschland aus leicht verständ¬
lichen Ursachen nicht möglich, so geht die weiche Melodie
des Wienertums verloren, und es entstehen schärfer¬
Datura:
Linien. Darunter litt die Aufführung etwas, wenn
a
gleich sich alle Mitwirkenden mit mehr oder minder Er
folg auch um den leichten Wiener Dialekt mühten. Aber
nur Robert Schneeweiß gelang restlos die Durch¬
führung. Aber nicht das allein sicherte ihm einen Vor¬
sprung vor den übrigen Mitspielern, auch die ganze
leichte Auffassung war so echt, so wienerisch, so Schnitz¬
Herzogliches Hoftheater.
lerisch, daß sie schlechthin unübertreffli¬
war. Eugen Marlow hatte demgegenüber einen
Braunschweig, 18. Mai. Aus „Anatol": „Die
schweren Stand. Der Wiener Lebemann Anatol ist kein
Frage an das Schicksal“, „Weihnachtsein¬
Don Juan im gewöhnlichen Wortsinne, kein Dutzendlieb
käufe", „Episode" und „Abschiedssouper
haber, sondern ein Liebender, wie er für die verfeinerte
von Arthur Schnitzler.
Sinnenkultur des Wieneriums charakteristisch ist. Dazu
Die dankenswerte Anregung des Deutschen Bühnen¬
ist Eugen Marlow aber von Natur nicht dis oniert, er
vereins, die Geburtstage der deutschen Bühnenschriftstel¬
So vermochte er weder in
ist dazu zu — gesund
ler — natürlich nicht jeden, sondern den 50., 60., 70. usw.
Sprache, noch in Maske, noch in der Darstellung die
Geburtstag — durch Aufführung ihrer Bühnenwerke zu
verfeinerte Geistigkeit so ganz zum Ausdruck zu bringen
begehen, ist bei der Leitung unseres Hoftheaters au
wenn er andererseits auch seine umfangreiche Rolle mit
fruchtbaren Boden gefallen, denn im Laufe der letzten
großer Frische und glücklichem Humor durchführte. Ne
Monate haben wir mehrfach solche Autorentage gefeiert,
ben den zwei Herrenrollen, die das Stück verlangt, tre¬
und voraussichtlich — das Jahr 1912 ist besonders reich
ten als bescheidene, aber charakteristische Auswahl der
an Gedenktagen — harren unserer solche Gedenktage noch
vielen Frauen, die in Anatols Armen lagen, in den
mehr. Feiert doch, um nur an das Nächstliegende zu er¬
Einaktern vier Frauengestalten auf: ein süßes Mädel“
innern, am 15. September Heinrich Heinemann, seit
das an Stelle der leider erkrankten Paula de Bruyn
mehr als einem Menschenalter Mitglied unserer Hof¬
Fräulein Kley, etwas schülerhaft in der Sprache aber
bühne und nebenbei ein fleißiger und, was die Haupt¬
sonst recht nett spielte, eine junge Frau in schmerzlicher
sache ist, erfolgreicher, anderswo, nach dem Sprichwort
Resignation, von Lotte Horst treffend dargestellt, eine
von dem im eigenen Lande nichts geltenden Propheten,
namen¬
Zirkusreiterin
polnisch-russisch=ungarische
freilich mehr als hier aufgeführter Bühnenschriftsteller
Bianca, der J. von Hansen in Ton und Toilette
seinen 70. Geburtstag, der sicherlich nicht sang- und
charakteristische Züge verlieh, und schließlich die sesche
klanglos vorübergehen wird.
Annie der Clarissa Linden, ihr — und mit ihr dem
Der heutige Abend galt dem 50. Geburtstage Arthur
Publikum — bereitete es eine sichtliche Lust, mit ausge¬
Schnitzlers, den man durch eine Aufführung einiger
lassenem Humor in die Eigenart eines solchen kindlich¬
Stiegen aus dem „Anatol"Zyklus ehrte, jener Szenen¬
reihe, die für die literarische Wesensart des Dichters so naiven Wiener Mädels, das wie ein ungezogens Kind
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