II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 414

4.9. Anatol - Zyklus
box 9/1
Degen.
a un
Noler Stimmen, Innsbruck
Ausschnitt aus:
vom

Stadttheater.
„Wiges und sein Ring. Eine Tragödie in 5
Akten von Fr. Hebbel. Es sähe fast so aus, als wollte
unsere Theaterleitung den moralischen Faustschlag, den
sie mit der Aufführung des „Anatol ausgeteilt hat,
durch „Gyges und seinen Ring wieder gut machen,
wenn nicht aus den Ankündigungen auf den Theater¬
zetteln zu ersehen wäre, daß sie zwar eine Wieder¬
holung des Faustschlages vorhat, während erst abzu¬
warten ist, ob auch „Gyges und sein Ring“ wiederholt
werden wird. Aber auch gesetzt den Fall, daß man
Hebbels Tragödie, wie zu hoffen ist, nicht schlechter
behandlet als Schnitzlers Pornographie, muß auf die
Eigentümlichkeit des Verfahrens hingewiesen werden,
das da eingeschlagen wird. Es geht doch nicht an, daß
man einem heute schön tut, um ihm morgen eine
Ohrfeige geben zu können, oder daß man ihm nach
jeder Ohrfeige schön tut, damit er sich nicht beklage.
Auf unseren Fall übertragen heißt das: Das Schwei¬
gen über die Schmach einer „Anatol"-Aufführung läßt
sich durch keine noch so vorzügliche Aufführung von
Hebbels „Gyges" erkaufen.
Die Tragödie sollte eigentlich nicht „Hyges und
sein Ring" heißen, hieß auch ursprünglich nicht so
sondern „Rhodope“. Denn nicht Geges ihr Held,
er findet nicht einmal den Tod. Nur die Freude an
der wohlgelungenen Gestalt mag den Dichter bewogen
haben, sein Werk nach ihr zu benennen Rhodope aber
ist die tragische Heldin, mit ihr hat Hebbel auch der
keuschen Frauenseele ein herrliches Denkmal gesetzt,
ein Denkmal deutscher Art. Während Herodot, der
Gewährsmann des Dichters, erzählt, Gyges habe nach
der Ermordung des Kandaules seine Frau mitsamt
dem Königreich in Besitz genommen, während fran¬
zösische Bearbeiter den Stoff ins Komische wendeten,
erblickte Hebbel nach echt deutscher Weise in der ver¬
letzten Scham des Weibes den Keim zu einer Tra¬
gödie und Rhodope gibt sich bei ihm selbst den Tod,
da sie, obwohl entfühnt, ihr gewaltsam beflecktes Da¬
sein nicht länger zu ertragen vermag. Die Geschichte
mit dem Ring fand Hebbel bei Platon und verwendete
sie äußerst geschickt für seine Tragödie, indem er die
zwei Lesarten über den Untergang des Kandaules in
geistvoller Weise miteinander verband.
Die samstägige Aufführung war vor allem getra¬
gen von dem erfolgreichen Bestreben, die „vorge¬
schichtliche und mythische Handlung glaubhaft zu ma¬
chen. Das ist zunächst Frau Speidel zu verdan¬
ken, die die geeigneten Töne fand, den Schmerz des
vorher sorglos zurückgezogenen Weibes nach dem rö¬
hen Eingriff in sein heiligstes Gefühl zum erschüttern¬
den Ausdruck zu bringen. Nicht minder gut gelang
es Herrn Reymer im Laufe der Begebenheiten vom
Jüngling, der in seiner Unschuld errötend nach den
Sklavinnen der Königin schaut, zum wissenden Manne
heranzureifen, der sich der aufgeladenen Schuld be¬
wußt, bereit ist, sie mit dem Tode zu fühnen. Auch
Kandaules wird ein anderer. Neuerungssuchtig zuerst
und im Kriege mit Herkommen und Sitte, richtet er
zum Schlusse an Gyges die Mahnung: „Nur rühre
nimmer an dem Schlaf der Welt!" Mit Herr
der diese Rolle gab, ging dieselbe Wandlung
vor