II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 451

4.9. Anatol - Zyk
Anatol in den Kammerfielen.
Fünf Einakter von Arthur Schnitzler.
Anatol, der elegante sunge Wiener Ala
mag jetzt ein ehrbarer älterer Herr so End¬
Fünfzig sei. Er hat eine Glatze, ein Bäuch¬
und vielleicht ist er sogar schon Großpopa. Es
spricht von Valuten, von seinem Gesundheitszu¬
stand, und im Sommer geht er nach Karlsbad
wegen der Gallensteine. Manchmal entsinnt er
sich der Jugendjahre, damals um 1890, als er
noch mit Freund Max — was ist aus dem ge¬
worden? — über Frauenaffären zu plaudern
pflegte, als er, ins Leben verliebt, um einen
Mädchennacken, einen blonden Kopf, in Lachen,
ein zärtliches Wort in Entzücken geraten konnte,
Damals, wo er mit Cora, Gabriele, Annie, Bianca,
Ilona glücklich war. Wo seid ihr alle? Seid ihr
alt geworden, gleich in seid ihr verschollen, tot?
Anatols Welt ist nicht mehr: Nicht die leicht¬
herzigen, daseinsberauschten jungen Leute eines
entschwundenen Wien und nicht die süßen Mädeln
gibt es — all das ist auf immer versunken.
Schnitzlers anmutige Dichtung ist Reminiscenz.
In den Kammerspielen wurde sie aufgericht:
Man spürte ein wenig Staub, ein wenig Vergilb¬
heit, ein Hauch von Wehmut umwitterte das
Gange.
Anton Edthofer lieh dem Anatol char¬
mante Frivolität, Thiemig war als Räsonneur
Max etwas zu trocken, um einen Grad zu schwer¬
blütig, man möchte fast sagen, zu nordisch. Erika
Theilmanns Cora: niedlich; Lina
Lossen Gabriele: melancholisch frauenhaft.
Margarete Christians Annie: sehr echt, sehr
lebendig im Tonfall, in Bewegungen abgerundet,
wirklich. Margarete v. Bukowicz als Bianca,
Fräulein Arbenia als Ilona, beide achtung¬
gebietend.
Br.
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Klose & Seidel
Bureau für Zeitungsausschnitte
Berlin 10. 43, Georgenkirchplatz 21
Zeitung: Berl. Zeitung am Mittag
Berlin
Ort:
Datum:
1922
„Anatol in den
Kammerspielen.
Sieben Dialoge umfaßt Schnitzlers Anatol.
Fünf der sieben geben die Kammerspiele, die
gestern eine Neueinstudierung gebracht haben. Es
fehlen nur „Denksteine“ und „Agonie". Regisseur
ist Dr. Iwan Schmith, der zusammen mit dem
Maler Heartfiel einen farbenhellen, szenischen
Rahmen geschaffen hat. Abgestimmte Bunthe
der Gardinen, Divan, Kissen, Wände. Das
hübscheste Bild ist das der „Weihnachtseinkäufe:
die Straße in Wien mit den beleuchteten Schau¬
fenstern. Ein geschlossenes Kino, in dem ein
Film „Flammen der Liebe gespielt wird, anachro¬
nistisch wie Pyjama und Autohupe im „Hochzeits¬
morgen. Denn, erinnern wir uns, der „Anatol¬
ist 1892 geschrieben, als man nur von Beiseln,
Herrennachthemden und Fiakern gewußt hat.
Die beiden Freunde, die durch alle die kleinen
Stücke gehen, sind Herr Edhofer und Herr
Thimig. Edthofer ist der Anatol, der psycho¬
logisch aufgemachte Wiener Bonvivant. Aber er
ist nicht ganz der „leichtsinnige Melancholiker
der tändelnde Genießer. Mehr ein sachter und
ernsthafter Ironiker, der zu sehr schon den
Katzenjammer des immer Enttäuschten und Ge¬
narrten zeigt. Im übrigen von besten Manieren,
leise redend, schmöchtig und spitz, Herr Thimig
ist neben ihm der breitschultrige, Vollblütig¬
gesunde. Der Raisonneur Max, der nicht immer
philosophisch passiv ist (die Philosophie ange¬
deutet durch eine gelehrte Brille). Die gute
Laune Thimige hilft jeder der Szenen kräftig
nach.
Fünf Damen sind aufgeboten. Nett und frisch
das junge Fräulein von Thellmann, voll
seiner Anmut Fräulein Lossen in den „Weih¬
nachtseinkäufen, lustig auch Frau von Bu¬
kovics in Episode", rassig, in lauter Gold¬
spitzen, das schwarze Fräulein Arbenina.
Und dann die Annie im „Abschiedssouper: Fräu¬
lein Christians die nochmals beweist, was
für eine perfekte Schauspielerin sie hier geworden
ist. Sie plaudert das geläufigste Wienerisch,
wenn auch ohne die Naturtöne der Niese. Und
obzwar sie mehr sweet girl als füßes Mädel ist,
erfreut sie durch ihren Charme und ihre Leben¬
digkeit.
P. W.
Klose & Seidel
Bureau für Zeitungsausschnitte
Berlin NO. 43, Georgenkirchplatz 21
Zeitung: Deutsche Allgem. Zeitung
Berlin
Ort:
Datum
JAN 19
Anatol"
in den Kammerspielen.
Schnitzlers „Anatol" soll, wie hie und da
immer noch versichert wird, ein nachdenklich¬
melancholisches Stück, voller Halbschatten und
Halblichter sein, der Ausdruck einer Trauer
über die Vergänglichkeit aller Dinge, über die
Wesenlosigkeit aller menschlichen Beziehungen,
über die Einsamkeit des einzelnen, der ein mit
Erinnerungen belastetes Leben mit sich herum¬
trage, ohne je wahrhaft mit anderen Menschen
verbunden zu sein.
Wie man das je in dieses Werk hineinlesen
konnte, ist unerfindlich, ebenso unerfindlich,
w. an darin den Abglanz einer reifen und
müden Kultur sehen konnte. Auch von irgend¬
einem Raffinement, irgendeiner Dekadence¬
stimmung ist nichts zu spüren. Was sich vor
uns abspielt, ist das trotz alles äußeren Fir¬
nisses recht robuste und völlig uninteressante
Liebesleben einer jugendlichen Spießerseele, die
ihre herzlich belanglosen Abenteuer selbst¬
gefällig überschätzt. Alle Probleme werden mit
der vornehm sein sollenden Handbewegung
pseudogeistiger Spielerei beiseite geschoben oder
mit schwermütig=verlogenen Redensarten zer¬
redet, die der Philosophie eines weltschmerz¬
lichen aber nichtsdestoweniger genießerischen
Lebejünglings entstammen könnten. Was
sollen uns diese Bonmots von vorgestern?
Die ehedem vielgerühmte Grazie dieses Stückes
dünkt uns heute ein leere Geste, die uns nur
pärlichen
Einzig
noch langweilt.
possenhaften Momente interessieren einen
flüchtig: sie sind doch wenigstens richtiges
„Theater“.
Die Aufführung vermochte diese Langeweile
nicht zu bannen. Anton Edthofer hätte den
Anatol weicher, raffinierter, stimmungshafter
spielen müssen, um über die innere Bedeu¬
tungslosigkeit seiner Rolle hinwegzutäuschen;
er gab nicht mehr, als der Dichter gegeben hat,
— und das ist in diesem Falle zu wenig. Aus¬
gezeichnet war der Max Hermann Thimigs:
ein unsterblicher Typus, eine blonde, unbedenk¬
liche Mittelmäßigkeit, die sich behaglich ge¬
nießend im Leben zurechtfindet. Margarethe
Christians herzhafte Annie und Stella Arbei¬
nas temperamentvolle Ilona waren aner¬
kennenswerte Leistungen. Die übrigen fanden
sich, so gut es ging, mit ihren Aufgaben ab.