II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 452

4.9. A
Zyklus

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Schnitzlers „Anatol.
Kammerspiele.
Lebt Anatol noch? Der „leichtsinnige Melancholiker, der immer
nur spazieren geht, liebt und Bonmots über die Liebe spricht
Sehr zeitgemäß ist seine Existenz gewiß nicht. Zudem habe ich
ihn im Verdacht, daß er gar nicht mehr den jugendlichen Rentier
spielt, sondern daß er Referent irgendeines Hilfsbundes oder einer
Abwicklungsstelle werden mußte. Immerhin, er lebt noch, er liebt
noch und er spricht sogar noch immer über die Liebe. Er wird
wahrscheinlich noch allerlei Geschicke seiner Stadt Wien überdauern,
um eines Tages — berr — im historischen Kostüm auf der Bühne
zu stehen. Seht, so lebten die Männer damals, vor dem großen
Klage.
Auf alle Fälle ist Arthur Schnitzlers „Spaziergänger oft schon
auf der Szene antiquierter erschienen als gestern. Denn der gute
Komödienregisseur der Kammerspiele, Iwan Schmid, gab
den und Einaktern, was ihnen oft vorenthalten blieb: Jugend,
Tempo, Leichtigkeit, Wiener Luft.
So gab de Nachwirkungen, die eigentlich gar nicht anatolisch
anmuten. Denn dieser Genießer lacht ja selbst nicht, er lächelt
höchstens leise und ein wenig schmerzlich auf die Blume im
Knopfloch hin. Auch Schnitzlers Dialog in seinem Witz, wie
er sich ohne Mühe, ohne Ankündigen und Nachdrücken von selbst
zu formen scheint, rechnet nur auf ein Schmunzeln als Lohn.
Gestern aber wurde aus Lächeln und guter Laune in den beiden
drastischen Szenen „Abschiedssouper" und „Hochzeitsmorgen ein
ehrlicher Lustspielerfolg.
Dabei ist das Problem der Titelrolle auch gestern nicht gelöst
worden. Dieser Anatol ist nun einmal letzten Endes unspielbar,
naiv und blasiert zugleich und in einer Ironie befangen, die ein
wenig über seine Verhältnisse zu gehen scheint. Anton Edt¬
hofer, so geschmeidig wie unpersönlich, nahm den jungen Herrn
nicht jung und nicht leicht genug. Wie ein Asket der Eifersucht,
wie ein Kaplan der Leidenschaft sah er aus, und die Sicherheit des
Wohlbehüteten ging ihm, im „Abschiedssouper, gründlich aus¬
Aus Verlegenheiten dürfen in dieser Welt beileibe keine Konflikte
wachsen!
Wenn Anatols Herbheit der guten Laune in Person, seinem
Freunde Max, zur Folie dienen sollte, so war freilich ein sicherer
Kunstverstand am Werke. Denn Max sah durch Hermann
Thiemigs goldene Brille in die Welt, so trocken ohne Egois¬
mus, so skeptisch ohne Bitterkeit, so ironisch ohne Galle, kurzum so,
wie nur einer von den ganz seltenen Humoristen Menschen und
Dinge betrachten kann. Die Aussicht auf sein Wiedererscheinen
nasse allein schon von Akt zu Akt die Stimmung halten und
heben.
Zum Lustspielensemble der Kammerspiele fehlen seit dem
„Hühnerhof“ die Frauen nicht. Als Verstärkung stieß Lina
Lossen zu ihnen, für den kleinen Dialog auf der Straße „Weih¬
nachtseinkäufe. Seitdem sie diese Rolle auf Brahms Bühne ge¬
spielt hat, kann nur sie in der Erinnerung Dame und Sehnsüchtige,
Aufbegehrende und Gebändigte zugleich sein. Wie vornehm muß
Kunst und Menschentum sein, um dem Sentimentalen so sicher aus
dem Wege zu gehen!
Im Abschiedssouper hat Hansi Niese einst so unvergeßlich
ordinär geschmatzt. Margarethe Christians begnügt sich,
den Schwips bürgerlicher anzudeuten, in einer wachsenden Sicher¬
heit, die nur dem Organ noch nicht seine Schärfe zu nehmen weiß.
Erika von Thelmann, jüngst in einem Weihnachtsmärchen
derb und fest erprobt, ist diesmal als hypnotisiertes Medium
sozusagen nur Objekt der Gesetzgebung. Immer mehr Herzens¬
damen! Ein frisches Wiener Mädel (Margarete von Bukovics)
sund als „Episode im Hochzeitsmorgen die exotische Schönheit
der Stella Arbeniana, die sich vorläufig noch auf die Bered¬
samkeit ihrer Erscheinung und auf den Ausdruck ihres Fabel¬
kostüme verlassen muß.
In Licht und Farbe hat Juan Schmith, vom Maler Hart¬
field gestützt, Phantasie und Einfall genug, um die Monotonie
zu verscheuchen. Ein Regisseur dieses Ranges hat es nicht nötig,
daß der Oberkellner im Abschiedssouper mit stummem Spiel
überdeutlich nachhilft. Er lasse seine Speisen für sich sprechen.
M. J.