II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 454

laufen wie heute. Mag sein, daß die Majorität
der gegenwartigen Theaterbesucher ein sonder¬
bares, mit tieferen Worten schwer heranzulocken¬
des Geschlecht sind. Aber ich glaube es nicht,
daß sie ganz und gar unerziehbar wären. Ich halte
es für einen recht falschen Weg, sich die Richtung
des Spielplanes vom Kassier vorschreiben zu las¬
sen. Mangel an Stücken: Sie sind unauffind¬
bar, so lange die Angst vor dem Experiment
mitspricht. Das wahre, von der Tagesspekula¬
tion auf Pikanterie unabhängige Zugstück ist
weder von außen, noch durch dramaturgische
Gutachten, noch durch Kleistpreise zu erkennen.
Es springt als göttliche Gnade hervor, während
man ein Opfer zu bringen glaubte.
Warum ich dies anläßlich eines Schnitzler¬
abends äußere, der ja gewiß nicht zu den
schlimmsten Repertoiresunden zählt? Vielleicht
bin ich angstlich, daß die im Range vornehmsten
Bühnen allmählich mit dem Schillertheater¬
programm wetteifern könnten. Jedenfalls halte
ich das Deutsche Theater immer wieder für einen
Bode, der keiner Müdigkeit verfallen darf und
aus Erschlaffungszuständen zu vorbildlichen
Unternehmungen aufgereizt werden soll. Noch
voriges Jahr gab es zum mindesten eine
Stramm=Inszenierung. Volle künstlerische Be¬
riedigung kann immer wieder nur durch Be¬
rührung mit neuer oder doch neu erweckter
Literatur erwachen. Der Reinhardt=Erfolg des
„Traumspiels z. B. ließ literarische Neugierde
unbefriedigt.
Um zu dem gut riechenden Frauenjäger Ana¬
tol zurückzukehren — ware er trotz aller Vorliebe
derzeitiger Theaterbilletikäufer für das Galante
nicht etwas langweilig, so müßte man nicht auf so
verdrießliche Gedanken kommen. Außerdem will
ich gestehen, daß ich mich gestern weit mehr um
die Nebenerscheinung des aus Gefälligkeit Dia¬
zeugenden Freundes Max kümmerte. Er ist,
wenn man will, eine Stichwortexistenz und soll
dem jungen Schnitzler seinen Mangel an drama¬
tischer Ergiebigkeit zudecken helfen. Früher fragte
ich oft gibt es eigentlich so einen Ausbund
von Selbstlosigkeit wie diesen aufmerksamen Zu¬
hörer Max, der nur das tut, nur das redet, was
seinem Freunde Anatol die Fortsetzung seiner
Monologe und die Weiterführung der Situation
ermöglicht? Selbst in der einzigen Szene „Epi¬
sode", in welcher Märchen mal selber zu beweisen
sucht, daß er kein bloßer Papagei ist, selbst hier
denkt er vor der Umarmung an die Revanche
für seinen gekränkten Freund Anatol. Daß man
ihn diesmal sehr positiv sah, hat man der Dar¬
stellung Hermann Thimigs zu danken. Er
gab den Max nicht mehr als Ableger des lieb¬
reichen Anatols, sondern als eine wienerisch
knurrige, spöttisch kaffeehäusliche Selbständigkeit.
Anatol war der angenehme humorfrische
Herr Edthofer, bei dem mir nichts so sehr
wie seine Geschmeidigkeit ins Bewußtsein kommt.
bleibt dahingestellt, ob sie ein mehr technisches
der mehr künstlerisches Ausdrucksmittel ist.
war jedenfalls ein recht lustiger (nicht so sehr
eleganter Anatol.
Groß war das Aufgebot an repräsentativer,
das Auge anziehender Weiblichkeit. Eine Reihe
neuer Erscheinungen. Bloß Frl. Lossen hat
Weihnachtsstraßenszene
man in sentimentalische
bereits früher ein bischen Wehmut und Seelen¬
gefröstel ausnanzieren gehört. Gestern sprach
die Künstlerin etwas undeutlich und es blieb bloß
die vornehme Linie haften. Den lebhaftesten
Eindruck hinterließ Margarete Christians in
Es war (für ihre Verhält¬
„Abschiedssouper
nisse) bis auf ein paar Schrillheiten des Tones
eine vorgeschrittene Leistung. Erika vor
Thellmann veranschaulichte den Typus lieb¬
licher Rundheit, Margarete von Bukowic
wähnte den Charakter einer Zirkusdame zu
treffen, war aber trotzdem etwas einwandfre
Sympathisches. Stella Arbenina spielte das
ganz gefährliche Temperament bei anerkennens
werter Schultern- und Fußfreiheit. Nur das
Talent war noch unfrei.
Spielleiter war Iwan Schmith, dessen un¬
persönliche Führung als Geschmackleistung zu
werten ist.
Emil Faktor.
4.9. Anatol - Zyklus
Kunst und Leben.
Schwitzlers „Anatol“ sollte in den Kammerspielen aus
seiner Melancholie erwachen, denn der Spielleiter Jwan
Schmith hatte die dramatischen Skizzen ganz auf einen etwas
lauten Lustspielion eingestellt, so daß das feuilletonistische Geplän¬
kel mehr, Theater wurde, als es eigentlich ist. Sie wurde manche
Feinheit vergröbert, aber vieles wuchs auch so glücklich über den
bloßen Dialog hinaus, daß das Antiquierte dieser Szenen sich ver¬
wischte.
Anton Edthofers Anatol war müde und blasiert, aber
ohne Jugend, und ohne einen einzigen Zug von wirklichem Lebens¬
und Liebeshunger. Erst im „Hochzeitsmorgen fand er
sich mehr ins typisch Wienerische hinein. Sonst war er ein allzu
sachlicher junger Mann, an dessen Abenteuer niemand glaubte.
Max, „der nicht zählt, war Hermann Thimig, der sich
durch eine goldene Brille die notwendige Würde geben mußte.
Solch einen Gemütsmenschen, der so bieder und ehrlich ins Leben
guckt, läßt man sich gefallen; denn Thimig hatte das Gesund¬
Wienersche, den Humor des Herzens, der über alle Blasiertheit
und Lebemannsphraselogie siegt.
Die Damenwelt des Anatolkreises hatte mancherlei Anziehendes.
Erika von Thellmann war nur Medium, das kaum selber
auf „Die Frage an das Schicksal gespannt war, auch sonst
blieb sie hilflos. Aber Lina Lossen war, wie einst, die Dame,
die „Weihnachtseinkäufe macht, und im Vorübergehen
leis wehmütig ihre Seele restlos enthüllt. Eine wundervolle
Szene. Im „Abschiedssouper gab sich Margarethe
Christians Mühe, recht bubenhaft einen Sektrausch zu mimen.
Margarete von Bukovics konnte nicht einmal mit der
„Episode" fertig werden.
„Anatols ochzeitsmorgen" aber wurde eine toll¬
derbe Komödie, in der die neue Bühnenschönheit Stella
Arbenina ihre Reize recht temperamentvoll zur Schau stellte.
— H.
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