II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 453

4.9. Anato.
Zyklus


box 9/3
klo
Bureau für Zeitungsaus¬
Berlin 10 43, Georgenkirchplatz 2
Theater und man
Schnitzlers Anatol.
Kammerspiele.
Man konnte diesen glänzend geseiften, her¬
vorragend frisierten, von sich ungeheuer einge¬
nommenen Lebejüngling Anatol schon immer
gut leiden, man war niemals von dem Hoch¬
mutsdünkel ergriffen, daß der enge Liebeshori¬
zont des Wienerisch verweichlichten Don Juans
literarisch minderwertig sei, da etwas gekannt
Schmalspuriges wertvoller bleibt als unbezwun¬
gene Großartigkeit. Aber trotz alledem beginnt
eine allzu häufige Begegnung mit dem parfü¬
mierten Wichtigter in den Süßigkeiten des Da¬
seins (unter uns gesagt) ein wenig langweilig zu
werden. Vor Jahren waren die Anatolskizzen
schon darum interessanter, weil man in ihnen
den Atem einer Stadt zu spüren glaubte, die es
in dieser Unmasse von Sorglosigkeit, in dieser
grenzenlosen Verliebtheit in die kleinen Freuden
heutzutage längst nicht mehr gibt. Die Anatols des
Jahres 1922, ich meine die genießenden Nichts¬
tuer, hörten vor ein paar Wochen eine sehr un¬
liebsame Musik ausbrechender Volkswut und ein
Wien mit einer halbdemolierten Ringstraße hätte
die süßfarbenen Zärteleien des jungen Schnitzler
kaum geboren. Für historische Betrachtung ist
entweder Anatol noch nicht alt oder die Wiener
Station (wie auch unser aller Zustand) noch
lange nicht endgültig genug.
Oder soll man schlecht sein und dem amou¬
rensen Helden nachsagen, daß er gar nicht soviel
Selbstvertrauen zum Wiedererscheinen hätte,
wenn er nicht Reigen=Konjunktur wittern
würde? Meine Abendblatt=Predigt über die
Berliner Theaterverhältnisse ließe sich tagein
tagaus fortsetzen.
Es herrscht Systemlosigkeit,
man hat keinen großen Ehrgeiz mehr. Niemals
ist man (von den hierzu erkorenen Unterhal¬
tungstheatern abgesehen) den primitivsten In¬
stinkten des Publikums so hemmungslos nachge¬
laufen wie heute. Mag sein, daß die Majorität
der gegenwartigen Theaterbesucher ein sonder¬
bares, mit tieferen Worten schwer heranzulocken¬
des Geschlecht sind. Aber ich glaube es nicht
daß sie ganz und gar unerziehbar waren. Ich halte
es für einen recht falschen Weg, sich die Richtung
des Spielplanes vom Kassier vorschreiben zu las¬
sen. Mangel an Stücken? Sie sind unauffind¬
bar, so lange die Angst vor dem Experiment
mitspricht. Das wahre, von der Tagesspekula¬
tion auf Pikanterie unabhängige Zugstuck ist
weder von außen, noch durch dramaturgische
Gutachten, noch durch Kleistpreise zu erkennen.
Es springt als göttliche Gnade hervor, während
man ein Opfer zu bringen glaubte.
Warum ich dies anläßlich eines Schnitzler¬
abends äußere, der ja gewiß nicht zu den
schlimmsten Repertoiresunden zählt? Vielleicht
bin ich angstlich, daß die im Range vornehmsten
Bühnen allmählich mit dem Schillertheater¬
programm wetteifern könnten. Jedenfalls halte
ich das Deutsche Theater immer wieder für einen
Boden, der keiner Müdigkeit verfallen darf und
aus Erschlaffungszuständen zu vorbildlichen
Unternehmungen aufgereizt werden soll. Noch
voriges Jahr gab es zum mindesten eine
Stramm=Inszenierung. Volle künstlerische Be¬
friedigung kann immer wieder nur durch Be¬
rührung mit neuer oder doch neu erweckter
Literatur erwachen. Der Reinhardt=Erfolg des