II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 497

4.9. Anatol
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chen-Augsburger Abendzeitung
14. Dez. 1925
bei leisem Wind und Blätterfallen der zu spät uns. Rokoko ist Hofmannsthals Prolog zu diesen Schle
Geliebten von einem zerspielten Leben sagt. Fünf¬ Akten, und auch sie selbst spielen in einer Ver¬ spiel
Arthur Schnitzler: „Anatol¬
der

unddreißig Jahre sind verflossen seit dem Tag, gangenheit.
Erstaufführung im Residenztheate
figür
da die Niederschrift „Anatol“ vollendet wurde,
Gustav Waldau weiß um diese zeit¬
Noch immer ist Wien die Stadt des Lächelns
und noch sind sie keineswegs ausgestorben, die
ihre heimlichen Nöte werden dem Fremden kaum
leichtsinnigen Melancholiker, noch leben diese ihre lichen und kulturellen Bindungen. Er hat die
fünf meistaufgeführten der sieben „Anatol"-Sze¬
Pri
bemerkbar, und ihres Antlitzes holde Reine bleibt
Szenen um einen Prototyp, den Wiener Anatol. nen durch eine wienerische Musik verbunden, die
wie trotz aller Stürze und Umstürze seine sanft
Aber Wien, das deutsche Märchen am Donau aus verhangener Orchesterloge klingt, und de
welt¬
Glut lebendig und entzückend blieb. An der
(nur selten noch gesprochene) Prolog erscheint in
Karl
taubengrauen Abenden, die weich vom Wiener
strom, ist durch einen Krieg, eine Revolution
Reifrock seiner Zeit und plaudert seine Verse in
den
Wald hereinsinken, ist die Stadt noch immer da¬
einen Kronen= und einen Frankensturz gegangen
das Rokoko des kostbaren Theaterraumes. Soweit
deutsche Märchen am Donaustrom; mit dem Läu¬
die heimlichen Nöte, die dem Fremden kaum be¬
er sich selbst, den Schauspieler Waldau, einsetzen
dau,
ten der Glocken von Sankt Stephan wächst es merkbar werden, zehren am Mark der Stadt; Rei
fiel auf die Blüte ihres ewigen Frühlings. Die kann, vermag der Regisseur Waldau — von eini¬
groß, historisch und geheimnisvoll. Im Prate
Jüngsten einer Vorkriegszeit fangen an, alt zu gen Längen sei abgesehen — eine echte wienerische schen
dreht sich hoch über allem Weltgeschehen das
Riesenrad mit den bunten Lichtern seiner Gon werden, und an keinem von ihnen, den so sehr Halb=und=Halb=Stimmung zu beschwören, triff
n
Empfindsamen, sind jene Jahre spurlos vorüber er — bis auf einige Entgleisungen ins Schwa¬
deln, durch die lampionerhellten Räume weh¬
geglitten; Erinnerung ist das Beste oder Einzige, bing — den Schnitzlerton, und da Anatol-Walda
Waldteufels „Schlittschuhläuser=Walzer sehn¬
süchtiger, als du je ihn hörtest an irgendeiner was den mit Haltung Alternden verblieb. Die beinahe die ganzen fünf Szenen hindurch auf der
Stätte und in irgendeiner Nacht, und immer aber nach dem Krieg zur Reise kamen, wissen Bühne bleibt, füllt er den Abend mit persönlichen wen¬
nichts von dem seltsamen, kranken Zauber der Reizen: mit dem Charme des großen Jungen, mit wehn
noch sind die Worte der leider auch hier mi
allzu
Bubenköpfen an den weißen Tischen paradieren Zeit um die Jahrhundertwende; sie haben ihren schürfendem Humor, mit der Melancholie eine
eigenen Typ, der dem eines leichtsinnigen Melan- zarten Seele und mit einem ungewöhnlichen So
den Blondinen von Schnitzler.
geme
cholikers fremd und fern ist, auch wenn sie ihn, Können. Aber wenn es schon für diesen Können
Noch immer leben die Szenen um dieser
in Wien, bisweilen noch zum Muster nehmen. Er und Kenner nicht selbstverständlich leicht ist, in
Anatol, der nicht ohne Grund auf seinen parise¬
rischen Namen getauft wurde, und dessen ero war, dieser Typ, der edelste Repräsentant aller ab= Wien und bei Schnitzler zu verharren (seine Per¬
siflage von der Träne „im Knopfloch" war am
klingenden Epochen, seine Zeit wird oft noch
tische Erlebnisse von den Liebesabenteuern seine
der
französischen Kollegen materiell kaum verschieden wiederkommen, solange diese alte Erde kreisen Samstag unter nicht wenigen anderen die
schlimmste, so muß solches Bemühen um einer
Alba
wird, und immer leben, frühgereift und zart und
sind: doch nicht die Frage Was, die Frage Wie
erklärt den Typ des leichtsinnigen Melancholi= traurig, in fremder Welt einsame Brüder Ana¬ Stil für die übrigen Mitwirkenden beinahe not¬
kers. Sie sind keineswegs ausgestorben, die De¬ tols. Aber wieder einmal ist ihre große Zeit wendigerweise vergeblich bleiben. Nur eine ein¬ Staa
dritt
kadents von 1890, denen das Dasein ein Spazier=gewesen. Nie auch, solange ein deutsches Thea¬ ziger fünf Szenen findet unter diesen Bedin¬
les
ter sein wird, werden diese Szenen Arthur gungen ideale Formung, die Szene „Weihnachts¬
gang durch einen Irrgarten von Stimmungen ist
ande
Schnitzlers vergessen werden. Doch schon sind, einkäufe, die sich bereits im Buch bedenklich den
die kein Gefühl und kein Erlebnis mehr ernst
Sentimentalen nähert und oft gestrichen wird
Aus
nehmen können, weil sie wissen, daß nichts wahr unter dem Staub schwerer Jahre, ihre Farben
Hier jedoch steht Baldau in Herta von Hagen zur
und wirklich ist als der Augenblick; die deshalb verblichen. Noch immer leuchtet und entzückt ein
Form; aber, nicht wahr, es ist nicht unser eigenes die ebenbürtige Partnerin gegenüber. Man kann
ins
an die Stunde sich verschenken und sich betrüger
sich jene Gabriele gewißlich anders denken, aber
Str.
Stück mehr, nur noch, für wenige, ein Stück von
kraft ihrer Phantasie und ihrer Fähigkeit zu
unserem Stück, was in diesen Szenen gespielt was Frau von Hagen mit ihren kleinen Sätzen
Leidenschaft; die aus der Not innerer Haltlosig¬
formt, ist ein Miniatur=Erlebnis, dem das vor¬ Klei¬
keit die Tugend äußerer Haltung machen; die um wird, nicht mehr die Komödie unserer Seele, nur
noch, für wenige, ein Akt, ein Auftritt der Ko¬ gesetzte einschränkende Substantiv nichts nehmer
sich selbst wissen und so beinahe tragisch sind. Das
mödie unserer Zeitseele. Die Dinge des Lebens kann von seiner Echtheit, seiner Te und der
doze
fin de siècle war ihre große Zeit: „Liebelei
hies bekennerisch das Werk, das ihren Ruhm über haben heute ein anderes Gesicht als dazumal; Meisterschaft, mit der es geformt wurde. Char¬
die Erde trug; sie alterten mit Herrn von Sala, Liebe hat ewig gültigen und ewig gleichen Wert, lotte Krüger, Cora, lieblich anzuschauen und Wir
der am Ende seines einsamen Wegs im Garten die Formen der Erotik jedoch wandeln sich mit von natürlicher Grazie, ermüdet im hypnotischen and