II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 500


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4.9.
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Bayerische Staatszeitung, München
14. Dez. 1925
Schnitzlers Anatol.
(Zum erstenmal im Residenztheater.)
Es gibt eine Art hinter dem Kriege liegender Literatur, die
wir im Kriege schwer mehr vertrugen und von der wir fast
hofften, daß sie nach dem Kriege unmöglich sein werde. Dazu
gehören auch die Sexualdramen vom Wiener „süßen Mädel
Arthur Schnitzlers. Anfangs der neunziger Jahre des
vergangenen Jahrhunderts erschien in einem obscuren seither
längst zugrunde gegangenen Verlag ein schmächtiges Bändchen,
das unter dem Gesamttitel „Anatol“ sieben Einakter enthielt,
die den damals literarisch noch ganz unbescholtenen Wiener Arzt
Dr. Arthur Schnitzler zum Verfasser hatten. Das Buch blieb
zunächst völlig unbeachtet; die Stücke selbst blieben unaufgeführt.
Erst später ist der Autor der „Liebelei“ und des „Anatol“ be¬
rühmter geworden als jener des weit ernster gemeinten Medardus¬
Dramas. Man erwartete und wollte von Schnitzler eben nichts
anderes als immer neue Variationen über das Thema vom
„süßen Mädel“. Das hat sich an ihm selbst gerächt. In der Lite¬
raturgeschichte wird er voraussichtlich nur als der Schöpfer dieser
Anatol-Type haften bleiben.
Daß nun gar unser Residenztheater den Anatol=Zyklus als
eine späte, ja arg verspätete Neuheit zur Aufführung bringt,
müßte überraschen, wenn man nicht wüßte, daß unser erster und
glänzendster Anatol=Spieler, Gustav Waldau, der diese Rolle
bei der ersten Aufführung des Zyklus unter Stollberg am
2. April 1911 im Münchener Schauspielhause gab, heute und
seit langem einer unserer beliebtesten Darsteller der einstigen
Hofbühne und zudem auch Regisseur ist. Er hat denn auch diese
nicht umzubringende Einakterreihe am Samstag neu inszeniert:
und kann man mehr zu seinem Lobe sagen, als daß sein Anatol
heute noch genau so liebenswürdig, beiter und überzeugend wirkt,
wie vor vierzehn Jahren, denn Waldau scheint das Vorrecht,
ewiger Jugend zu besitzen. Mit der üblichen Weglassung der zwe¬
schwächsten wurden wieder wie schon damals die fünf Anatol¬
Einakter: „Die Frage an das Schicksal", „Episode
Weihnachtseinkäufe", „Abschiedssonper
und
„Anatols Hochzeitsmorgen" gegeben. Die beiden letz¬
teren als die wirksamsten sind seit jener Erstaufführung im
Schauspielhaus ja wiederholt dort einzeln aufgetaucht. Lina Woi¬
wode, Hilde Herterich, Consuela Nicoletti, Ewis Borkmann
haben wir darin als Anatols Partnerinnen gesehen. Frau
Herterich stand ihrem einstigen Kollegen Waldau nun
auch vorgestern im „Abschiedssouper als Annie gegenüber
und dieser Einakter hatte dank ihrem überaus temperamentvollen
Spiel neben dem „Hochzeitsmorgen Anatols", in dem They
Pricken die Ilona gab, die 1917 bei einer Aufführung des
Bayerischer Kurier, München
Der 1925
Natur. Non est. Ral.
von Arthur Schnitzer. Wer hätte gedacht, daß
„Anatol", ver gerade 32 Jahre alt geworden ist, auch
ins Residenztheater einziehen würde! Ein Zeichen
der Spielplannot. Das Publikum von heute pflegt
gute und ernste Stücke zu meiden, z. B. „Grifelda",
alle Werke der nordischen Dichter und vieles andere.
So gibt man eben auch einmal ein schlechtes Stück,
wenn es nur gut gemacht ist und wenn man es be¬
setzen kann. Gustav Waldau und Hertha
v. Hagen haben in „Anatol“ dieses Frühjahr in
Wien Triumphe gefeiert. München ist nicht Wien,
noch nicht, aber der Triumph blieb Waldau treu, der
hier Regie führte und die Titelrolle gab und auch
Frau v. Hagen als Gabriele, die wie gedämpftes
Saitenspiel mit Waldau die Szene „Weihnachtsein¬
käufe“ an uns vorüberziehen ließ. Bei einem Stücke
von so unverhüllter Amoralität, von so salopper
Lebensweisheit und wienerischer Verantwortungs¬
losigkeit kommt alles auf die Regie und die Darstel¬
lung an, wenn uns das Ganze noch möglich gemach¬
werden soll. Waldau hat als Spielleiter wieder seine
seine taktvolle Hand bewährt, die das Rauhe zu
glätten, das Grobe zu veredeln weiß. Und ebenso ist
Waldau auch als Darsteller des Anatol. Er ist immer
irgendwie ritterlich, nie derb, alles wird liebens¬
würdig, menschlich verzeihlich vorgebracht. Und das
ist in dieser Rolle sehr schwer. Unterstützt wurde er
dabei durch Graumann als Freund Max, eine
dramaturgische Notgestalt, mir etwas allzu trocken
und gewollt steif gespielt, dann durch die Damen,
die durch die Szenen huschen. Charlotte
Krüger, reizend jungmädchenhaft, wie es die
Rolle vorschreibt, und voll natürlicher Wärme,
Frieda Schrantz als Bianca von mondäner Ele¬
ganz, die durch Kunstwerke des Modehauses Cihak
noch wirksam gehoben war, Hilde Herterich als
Annie im „Abschiedssouper". Die Szene ward in
prächtigem Zusammenspiel zur vollkommenen Ein¬
heit und zum Höhepunkt des Abends. Die drollige
einfache Natürlichkeit, der ächte Humor, das wahre
muntere Temperament, die völlige künstlerische Frei¬
heit, mit der Hilde Herterich die Rolle gibt, ist nicht
zu übertreffen. Und keine Stelle zu der oder gar
roh, wozu so reichlich Gelegenheit wäre. Hier zeigt
sich die große Künstlerin auch im kleinen Rahmen.
Vor Jahren schon sah ich Hilde Herterich in „Anatol
schon damals bezwingend, aber noch im Banne der
Rolle, die sie uns heute mit gelösten Händen schenkt.
Es gab Beifallsstürme. Im letzten Bilde dagegen
They Pricken als Ilona viel zu grob und unfein,
manchmal peinlich. Vielleicht hätten die Damen
Schrantz und Pricken ihre Rollen tauschen sollen.
Und doch: es fehlt am Staatstheater an jungen
frischen weiblichen Kräften, für unentwegte leichte
Plauderrollen. Man brachte auch den Prolog, ein
Jugendwerk Hugos v. Hofmannsthal, in dem
eine Schäferin des Rokoko das Stück entschuldigend
um 150 Jahre zurückdatieren möchte, das doch ganz
und gar von 1893 ist und durch kein Fädchen mit der
Grazie des Rokoko verbunden ist. Den Prolog sprach
Frl. Schrantz merkwürdig matt und wie befangen.
Die musikalische Umrahmung tat den Bildern wohl.
Es war ein voller Erfolg bei dem zahlreich erschiene¬
nen Publikum und der eiserne Vorhang senkte sich
vor Waldaus dankender Gestalt.
E. v. Bassermann Jordan,