II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 501

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4.9. Anatol - Zyklus

Allgemeine Zeitung, München
16. Dez. 1925
VON DEN BUNEN
Anatol
5 Einakter von Arthur Schnitzler
Residenztheater
Fünf Sketsche, — zusammengeschnallt zu einem
Bündelchen sanftesten Seelenkinos. Schlager von
einst.
Mit welcher harmlosen Ausdauer dieser Anatol
auf Liebeleien trainiert, sich selbst allzu ernst
nimmt und das bißchen Animalität und das beß
chen Geknutsche und das bißchen Weib.
Dann nimmt er, alldieweil der stärkste Mann
doch auch in dieser Hinsicht nicht dauernd von
der Praxis leben kann, die Abenteuerchen bei den
Haarströhnen, — der Bubikopf war damals leider
noch nicht erfunden — und pustet sie ein bißchen
auf mit Theorie.
An dieser Theorie wärmt er dann sein mate¬
Heldentum, seufzt, beglückwünscht sich selbst zu
seinem Avancement zum Don Juan in Westen
taschenformat und packt schließlich den ganzen
Krempel in einer soliden Sentenz zusammen.
Dazu braucht er eine Unzahl von Anläufen.
Aber man merkt sofort: der Mann mit den dau¬
ernden Fehlstarts. Aber immer an unscheinbaren
Details verhafpelt er sich Rekordfieber eines
sanften Gemüts.
Es säuselt eine einschläfernde Gemütlichkeit
Staub wollt von abgetanen Reflexionen, die schon
so schön aufgebaumelt waren im Museum der
Seele.
Man schluckt den Staub und schluckt die Re¬
flexionen und doklert an seiner eigenen Seele
herum und denkt zu sich selbst: wenn du doch bloß
den Druckknopf finden könntest, damit auch be¬
dir die Innenbeleuchtung der Seele magisch zu
glühen beginnt.
Da aber das Gemüt nach dieser Richtung hin
durchaus nicht mehr einwandfrei funktioniert, be¬
merkt man schließlich, daß das ganze Geschehen
schon allein durch den Zeitverbrauch ins Reich
des Märchens gehört.
Süßholzgeraspel per Zeitlupe.
Da dieser Sport aber zurzeit schon von wegen
des Zeitmangels niedrig im Tageskurs steht, da
die Revue die nackten Tatsachen populär mache,
das richtige Kino per 7 Verführungen in 2 Akten
das Unwahrscheinliche zum Gesetz erhob, Infla¬
tion und Deflation Pole des Denkens wurden,


und die behutsame Dezenz das beste Mittel ist,
um sich die besten Frauen mit dem Erstbesten
entwischen zu lassen, wird dieser Anatol reichlich
legendar.
Man weiß eigentlich nicht, wie lange das her
ist. Das Vierteljahrhundert Zeitrechnung, das be¬
zwischen liegt, ist doch rein äußerlich.
Er riecht nach lau aufgewärmter ferner Ver¬
gangenheit.
Bleibt nichts als ein paar geistreiche Aus¬
sprüche, die man übt — zur gelegentlichen, spä¬
teren Verwendung.
Zeitfremdheit würde diesen kitschig sentimen¬
talen Anatol sicherlich erdrückt haben, wenn Gu¬
stav Waldau ihm nicht eine verklärte Vitalität
gegeben hätte. Er steuert ihn mit einem gedämpf¬
ten Impuls aus, mit einer gar nicht so zeitfrem¬
den Schlagfertigkeit. Dadurch rettete er oftmals
Situation und Thema, und zwingt am Ende doch
echten Beifall heraus.
Die geschlossenste weibliche Rolle bei weitem
Frida Schrantz, die lebendig und begabt das
Allzu=Gemütvolle durch ihr keckes Temperament
und ihren modernen Stil geschickt abschliff. Gra¬
ziös und scharmant im Prolog, in der Verderbt
heit der Tänzerin Bianka vielleicht ein paar Zen¬
timeter zu solide.
Charlotte Krüger und They Pricken da¬
gegen mehr verblassend. Herta Hagen, rou¬
niert und geschickt, Hilde Herterich viel zu
derb und gezwungen komisch.
Karl Graumann, ein natürlicher Anatol¬
Partner, sehr gut diszipliniert in der Wirksamkeit
schroffer Darstellung
Derfins Musik, — liebenswürdig verbindend.
Vergangenheit stand auf und wanderte,
Warum soll ein Vorgang aus der Zeit vor
20 Jahren nicht schon Märchen sein.
Das Tempo der Zeit läßt schnell zum Märchen
werden.
Die Kehrseite des Tempos
Jugendein rasender Fortschritt fercht alles vor¬
wärts.
Zeit, nur Zeit!
Ob sie wohl auch so rasch legendär werden, die
Leute der Gegenwart, die für nichts mehr Zeit
haben?
Für nichts? Für nichts Wesentliches, — von
Standpunkt der Vergangenheit
K. N. Nicolaus,