II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 596

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4.9. Anatol - Zyklus
Wien, Montag
Seite 6
Theater, Kunst und Musik.
Akademietheater.
„Anatol“ von Artur Schnitzler.
Es war keineswegs der ganze „Anatol", den man da
als verspätete und eigentliche Gedenkfeier für Artur
Schnitzler (bezeichnender als die Matinee am 15. Novem-
ber) zu sehen bekam. Zwei von den sieben Einakter
fehlten, nämlich „Denksteine“ und „Agonie. Durch sie
wäre der Abend überlastet gewesen. Hätte eine „Anatol
Aufführung am Burgtheater seinerzeit wohl heftigen
Widerspruch erregen müssen, so mag sie jetzt bis zu einem
gewissen Grade durch den Anlaß als entschuldigt gelten,
zumal sie nicht im großen Hause, sondern nur an der
Filialbühne erfolgt, an der durch Stücke wie „Die kleine
Katharina und „Grillen das künstlerische und sittliche
Maß ohnedies schon sosehr berabgemindert erscheint, daß
Schnitzlers Einakter, von flüchtigen Liebeleien handelnd,
sich fast zahm und harmlos ausnehmen. Besondern Ge¬
schmack vermögen wir ihnen freilich nicht abzugewinnen
und die Figur des jungen Menschen, dem das Leben nichts
anderes ist, als eine Gelegenheit, immer neue, flüchtige
Liebschaften anzuspinnen, und den keine andere Sorge
bedrückt, als die, seine jeweilige Geliebte, wenn die
„Liebe zu Ende ist, mit gutem Anstande wieder los zu
werden, diese Figur erscheint uns heute, in einer von
schwerstem Lebensernste und ganz anderen Sorgen er¬
füllten Zeit verächtlicher denn je. Allerdings: Wir spüren¬
— am stärksten aus der
aus manchen dieser Szenen
dichterisch wertvollsten zweiten, die „Weihnachtseinkäufe
heißt — den Duft, die heiter melancholische Stimmung
des Wien vor vierzig Jahren, des Wien, das wir noch
kannten, als wir Kinder waren, des Wien des
süßen Mädels" und des Fiakers der da im
Flockenwirbel auf dem Platze zwischen den alten
Häusern wartete, wenn die Gnädige ihre Weih¬
nachtseinkäufe besorgte. Diese Stimmung einzufangen,
das war Schnitzlers große Kunst. Und daß sie nun in
einer schönen Aufführung des Akademietheaters auf uns
Verdienst des Regisseurs
überströmte,
Herterich, umso überraschender und verdienstvoller, als
er selber kein Wiener ist. Er hat da wertvollste Regie¬
arbeit gezeigt kaum beeinträchtigt etwa dadurch, daß der
Schluß von „Abschiedssouper" in einen grotesken Spaß
ausartete, während er trotz seiner scheinbaren Lustigkeit
immer noch voll heimlicher Wehmut sein müßte, nämlich
voll der Wehmut einer gestorbenen Liebe. Ueberaus klug
war es, die Pausen zwischen den einzelnen Szenen mit
Musik zu überbrücken, mit einer süßen, lächelnd
träumerischen Musik: Boccerini, Schubert!
Der Anatol ist nach Wolf Albachs plötzlichem Abgange
(diese Besetzung wäre freilich das interessantere Experi¬
ment und für den jungen Künstler eine große Gelegenheit
gewesen) an Herrn Aslan gefallen. Er zeigt uns
weniger den Genießer, als den Entsager. Sein jeweiliges
Glück ist immer schon von der Trauer des Endes um¬
schattet. Er schöpft nicht den Leichtsinn dieses Jünglings,
wohl aber seine Schwermut bis auf den Grund aus.
Dadurch wird die ganze Szenenreihe beinahe geadelt, auf
eine höhere Ebene gehoben. Schon den hübschen, nach¬
denklich noblen Prolog Hofmannsthals sprach Aslan mit
nobelsten Anstande. Den Max spielt Emmerich
Reimers. Ungemein wienerisch, mit dem freien Humor
des in die Anatolschen Liebesgeschichten niemals mit¬
verstrickten Freundes, mit überlegenem Witz und ver¬
zeihendem Verstehen. Die Damen wechseln von Szene zu

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1.
Reichspost
Szene ab, wie in Anatols Leben. Zuerst sieht man die Der
liebenswürdige, unbeschwerte Heiterkeit der Gerda
ge
Dreger als Cora, dann die sanfte, tränenbedrohte
Wien
Anmut der Frau Mayen, hernach, wohl die größte
Einz
Freude des ganzen Abendes, die kuraschierte, mit einem
Unis.
Wien
Schuß Frechheit gewürzte, genial nachgezeichnete Schau¬
Kom¬
spielerin Annie der Alma Seidler. Lili Marberg
verka
bringt als Zirkusreiterin Bianka wieder einen ganz
neuen, höchst aparten Ton in die Reihe dieser Frauen und
Hofb
Ebba Johannsen macht als Ilona nicht eben sehr
kanzl
glücklich den Schluß. Einmal taucht allzu flüchtig der
n.-p.
immer seiner Wirkung sichere Herr Eybner als Kellner
auf. Das Stück — wenn man das lockere Szenengefüge
S
so nennen darf — wurde um ein paar Jahrzehnte „zurück¬
gespielt, was Ladislaus Czettel in den zeit
gasse
genössischen Kostümen sehr fein andeutete.
Das Akademietheater hatte einen großen, herzlichen
un
Erfolg zu verzeichnen.