II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 605


noch in diesen Szenen: die Männer, die nicht der
Mut hatten, das Schicksal zu befragen und sich
ihm zu stellen — die Damen, die nicht die Lei¬
denschaft hatten, zu lieben — die Mädel der Vor¬
stadt, die die Kraft hatten, zu blühen und bei¬
seite zu treten.
Franz Herterich läßt diese Szenen aus dem
Musikalischen emporwachsen. Er führt sie immer
wieder dahin zurück, er will — mit Recht
ihnen die verschwebende überwirkliche Zartheit
Schubertscher Kammermusik geben. So spielt auch
Raoul Aslan den Anatol. Kaum als Gestalt.
Aber die zerfließt ja auch impressionistisch, sie
entscheidet sich ja auch so wenig wie ihre ganze
Zeit. Er ist nicht ein neugieriger junger Mensch
— dieser Anatol — solche Versachlichung drückte
ihn auf ein sehr bescheidenes Lustspielniveau¬
sondern er ist der Ausdruck einer Epoche, die
sterben mußte. Dieses Wissende, dieses Elegische
spielt Aslan. Sein Anatol hat einen großen
Augenblick, als er sich der Enttäuschung gegen¬
über sieht, als er merkt, daß er sich selbst belogen
hat, daß er vergessen worden ist, daß er Episode
geblieben ist — Episode auch im Schicksal der
Welt. Was Aslan gibt, ist Reise und Überreife
der Schnitzlerschen Männerwelt, aber ich glaube,
daß man sie heute gar nicht anders vertragen
kann, als mit der dazu gespielten Ahnung ihres
Sterben müssen.
Emmerich Reimers ist ein Max, der
mehr dem Bierkrügel als dem Champagnerkelch
ongehört. Ein Nachkriegsmax. Aber sein klein¬
bürgerlicher Humor ist wirksam, weil in ihm
ein echtes Wien sichtbar wird. An den Frauen
wird die Not des Burgtheaters ziemlich deutlich.
Eine große Schauspielerin könnte alle diese
Rollen geben, nicht nur um ihre Verwandlungs¬
fähigkeit und die des weiblichen Geschlechts zu di¬
zeigen, sondern auch, wie Anatol bei all seinem
Suchen immer die gleiche Frau findet und liebt.
An eine solche große Schauspielerin von Dorsch¬
oder Bergner=Format im Burgtheater zu den¬
ken, ist kühn. Schon die reguläre Besetzung mit
fünf Frauen hat seine Not. Wohl ist Alma
Seidler eine hinreißend lustige Balletteuse.
Die Seidler braucht solche Rollen, in denen das
Wienerische, das Volkstümliche in ihr Gestalt
werden kann. Da wächst sie, da spielt sie über
alle ungen und über alles Neckische hinweg
inefreiendes Gelächter. Lili Marberg
gibt Zirkusreiterin mit viel Witz und Charme
die doppelte Existenz eine großen Dame der
halben Welt. Den Salon der guten Gesell¬
schaft verwandelt ihre heimtückische Paro¬
distik in den Salon des Sexualbetriebs.
Maria Mayen sentimentalisiert ein bißchen zu
sehr die Mondäne, Gerda Dreger als Wiener
Vorstadtmädel reicht gerade hin. Ebba Johann=
sen als Ilona aber ist eine vollkommene Fehl¬
besetzung. Ihre auf lockende Verhaltenheit, auf
das passive Herankommenlassen eingestellte Art
kann weder das temperamentvoll Ungarische, noch
die mit sich schauspielernde Leidenschaft geben.
Warum läßt man Schauspieler an solche Rollen
heran, die ihnen von allem Anfang an wieder¬
sprechen? Weil das Ensemble des Burgtheaters
voll Lücken ist. Hier muß die Neuordnung im
o. m. k.
Burgtheater einsetzen.


de
y
4.9. Anato

den
haus,
enten¬
Theater und Kunst.
(Akademietheater.) Schnitzlers „Anatol.
der junge, verliebte, verträumte Partner von
Aus¬
Schnitzlers unsterblichem süßen Mädel“ aus den
statt.
90er Jahren, der altmodische Elegant unserer
ann.)
altmodischen Jugendzeit, ist uns in einer mit sehr
feiner Einfühlung in die damalige Zeit von
Herterich inszenierten Aufführung des um
sunt:
zwei Bilder reduzierten Anatolreigens wieder be¬
gegnet. Für uns Alte bleibt er ein unvergeßlicher,
Bez.
geliebter Bekannter aus glücklicheren Tagen, den
Leuten von heute erscheint er immerhin als
Zahl¬
scharmanter, heiter melancholischer Romantiker
sowie
aus fast sagenhafter Wiener Zeit. Diese Liebes¬
andes
abenteuer des Wiener galanten Frauenfressers
riegs¬
von ehemals mit seiner Zärtlichkeit, seinen ewigen
Zweifeln an der Frauentreue, seiner Sinnen¬
Uhr
freude, kontrastieren natürlich zu der brutaleren
Einstellung der Verliebten von heute. Diese geist¬
vom
voll dialogisierten Feuilletons Schnitzlers sind
von einem zarten Duft, von einer geistigen
Anmut erfüllt und übertreffen mitunter die fran¬
zösischen meisterhaften Genrebilder gleicher Art
aus jener Zeit. Die Burgtheaterjugend fehlt uns
zum Teil noch die den Schnitzler von damals,
wenn ihr auch die Kleider von 1890 nicht gut
sitzen sollten, spielen könnte, denn das notwendig
beschwingte Tempo und die lebhaftere Heiterkeit
erreichen doch am besten die Jungen, Aslan,
der ausgezeichnete Schauspieler, bewährte Salon¬
elegant und kluge Ironiker, ist natürlich mehr ein
über Jugenderinnerungen räsonierender, voll¬
reifer Anatol, der Hofmannsthals Prolog sehr
fein, nur zu leise pointiert. Frau Dreger hat
als Cora die wienerische Note, Frau Mayen ist
die mondäne Gegenspielerin, Frau Seidler
hinreißend lustig, wenn sie auch ein wenig über¬
treibt, die ausgezeichnete Frau Johannsen
aber keine echte Ilona und auch ein bißchen un¬
wahrscheinlich stürmisch, Frau Marberg be¬
tont vorzüglich das schlamperte Liebesleben der
Zirkusdame. Der Max, der durch Scharfblick und
Ruhe Anatol überlegene Freund, wurde Emmerich
Reimers anvertraut, der aber zu wenig Leicht¬
blütigkeit entwickelte. Es war jedenfalls eine noble
Schnitzler=Gedenkfeier, ein denkwürdiger Abend
des Burgtheaters, dem sicher noch viele Wieder
holungen bevorstehen.
(Piccaver in der Volksoper.) Daß das Theat
ausverkauft war war ja vorauszusehen, ab
einen solchen frenetischen Jubel, eine derart
Begeisterung hat dieses Haus noch nicht gesehe
Interessanterweise waren im Publikum sehr za
reiche Stammgäste aus der Staatsoper
sollte wohl keine Demonstration gegen de
Direktion sein, es war vielmehr der Ausdruck
Anhänglichkeit an den wundervollen Sän
Piccaver als Cavaradossi und Vera Schwe¬
als Tosca sind eben Sensationen, die man
nicht entgehen läßt, zumal wenn sie für wei ger
Geld geboten werden. Frau Schwarz, eine der
besten Vertreterinnen der Tosca, bot eine hervor¬
ragende Leistung. Brillant aber, geradezu unver¬
gleichlich war Herr Piccarer, just, als wollte er
zeigen, es sei ihm unrecht geschehen. Diese beiden
Glanzleistungen rissen auch die übrigen Dar¬


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