II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 609

4.9. Ana
Zyklus
arine¬ Mächten in Schange, gut ge¬
wenn sie auf roten Stelzchen ihre Gefühlchen zerpflückten. Es
is
waren Schäferszenen in Gasbeleuchtung.
der
So werden sie jetzt auch im Akademietheater vorgestellt,
einer
absichtlich entrückt, ja noch etwas entrückter, als sie tatsäch¬
lich sind, mehr achtziger als neunziger Jahre des vorigen
Jahrhunderts und von einer Musik umwoben, die sie mit
goldenen Fäden noch weiter in den Hintergrund der Zeiten
zurückzieht. Bevor der Vorhang zum erstenmal sich teilt, sitzt
schon Aslan als Anatol halbabgewandt da und spricht mit
einem mokanten Seitenblick ins Publikum von heute den
Prolog, wie vor sich hinträumend, als ersänne er ihn eben.
Dann schwebt der Vorhang auseinander, Anatol wendet das
Gesicht nach rechts und ohne daß er aufstünde oder seine
Stellung veränderte, beginnt er mit dem ihm schräg gegen¬

übersitzenden Max zu sprechen. Das ist hübsch erfunden
und aus dem Material heraus. Nennt doch Cora gleich im
gen¬
ersten Stück Anatol ihren „kleinen Dichter, mit dieser Be¬
deine
nennung auch dem Darsteller die einzuschlagende Richtung
in
weisend. Die halb literarische Abkunft dieses Wiener Haus¬
von
herrnsohnes unserer l'art-pour-l'art Epoche wird damit be¬
Träne
segelt, und der jüngste Darsteller des Anatol, gerade weil er
er sie
der jüngste nicht mehr, drückt das Siegel seines klugen
merkt
Kopfes ins erwärmte Wachs. Er bleibt seinem „leichtsinnigen
lett!
Melancholiker, als welchen Anatol sich selbst definiert, nichts
die
schuldig, am wenigsten die Melancholie. Leichtsinniger und
elementarer mutet das weibliche Personal dieser Szenenreihe
an, am elementarsten die resolute Annie in dem übermütigen
Abschiedssouper, bei der so wie Alma Seidler dies
Gestalichen hinstellt, gar kein ungelöster literarischer Rest
bleibt, alles in zündendes Leben sich verwandelt. Darauf
konnte man freilich gefaßt sein, denn wo gäbe es heute eine
natürlichere Wiener Anmut, einen unverstellteren Wiener
Humor, als im künstlerischen Haushalt dieser wahrhaft
bodenständigen Schauspielerin, die ganz das Zeug hat, so
etwas wie ein weiblicher Girardi zu werden. Ueberraschender
wirkte schon das Hervortreten der Frau Johannsen, die
sich einzuwienern beginnt Ihre Ilona in dem letzten Stückchen
„Anatols Hochzeitsmorgen" — ist trotz ihres ungarischen
Vornamens eine Wiener Lebedame, und daß sie dabei und
trotz der nicht eben damenhaften Situation eine Dame ist,
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Das Telegramm ist vom Außenminister Lowenkan
gezeichnet.
kommt dem kleinen Stück äußerst zu statten. Schnitzler selbst
hat es keineswegs geliebt. Aber geliebt oder nicht, es ist doch
dasjenige unter den fünfen, das am meisten Stück
ist, wenn auch mehr Schwank als Lustspiel. Die
anderen sind Proverbs, lockere oder empfindsame Szenen,
und die am wenigsten lockere, empfindsamste: „Weih¬
nachtseinkäufe, ist die bezauberndste von allen. Wenn
es ein Seitenstück zum Walzer „An der schönen blauen
Donau“ in unserer Literatur gibt, so ist es diese
schwebende Szene: Geschichte eines zärtlichen Frauenherzens,
das sich aus der Innern Stadt in die Vorstadt, aus der
Tugend in die Liebe sehnt, aber eben nur sehnt, nichts weiter.
Frau Mayen drückt diese Sehnsucht reizend aus, im
übrigen bleibt sie eine etwas verschwommene „Mondänne",
vielleicht, weil sie, auf Wunsch des Spielleiters Herterich
die Wienerin allzu geflissentlich betont. Das gleiche gilt von
der Cora der Frau Dreger und von dem Max des jungen
Herrn Reimers, der, von den Apachen, die er für ge¬
wöhnlich spielt, zu den Lebemännern kommend, im Anfang
einen wahren Thury-Dialekt spricht, sich aber dann gegen
den Schluß hin immer mehr ins Gesellschaftliche hinüber¬
spielt. Vollendet in einer winzigen Rolle ist Frau Mar¬
berg, obwohl, oder weil sie spricht wie sie spricht, ohne den
wienerischen Grundton allzu ängstlich zu betonen. Er wird im
allg einen etwas krampfhaft festgehalten, obschon keine
Gefahr besteht, daß man Schnitzler in Wien für einen Aus¬
länder hält. Einmal, in einem bewegten Augenblick, sagt
Anatol sogar „Dulli", um den Dialog in einem, wie der
Spielleiter geglaubt haben mag, zeitgemäßen Sinne auf¬
zufrischen. Allein dieses Heurigenwort hat mit der Anatol¬
Welt ungefähr ebenso viel zu tun wie das Tonfilm=Wien
mit dem wirklichen. Es verschwinde und damit der einzige
Fleck auf der sonst geschmackvoll gehaltenen, sauberen Auf¬
führung, die, freudigst aufgenommen, zahlreiche Wieder¬
holungen verspricht. Wir buchen sie als eine Anzahlung auf
die schwebende Schuld eines größeren Schnitzler=Stückes,
etwa des „Jungen Medardus, und schreiben einstweilen dem
Burgtheater gut, was es seinem Dichter verdankt. Es ist
Raoul Auernheimer.
nicht wenig.