II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 613

Wien,
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an
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Hans Wengrafs Burg
die
Als Anatol im Akademietheater.
Von
Videns.
Es ist ein Einzelbeispiel für die echt wienerische Art, aus
einem Minderwertigkeitsgefühl heraus bodenständige Talente
nicht sofort anzuerkennen, daß die österreichischen Schauspieler
mit wenigen Ausnahmen erst in Deutschland auf ihren richtigen
Wert hin erkannt wurden. Der Stern Elisabeth Bergners ist
in Berlin aufgegangen, Anton Edthofer, Rudolf Forster, Fritz
Kortner — um nur einige Namen zu nennen — haben jahre¬
lang in Wien gewirkt, aber erst in der deutschen Reichshauptstadt,
die längst die Börse für Theatererfolge geworden ist, ihren
Hochwertrang erhalten. So mußte auch Hans Wengraf nach
kurzer Anfangstätigkeit in Wien lange Jahre in Hamburg ge¬
feiert sein, es mußte ein Direktionswechsel im Burgtheater
kommen, bis dieser in gutem Sinne wienerische Künstler in
seiner Geburtsstadt zeigen kann, was er an der Alster, wo er
von der Sonne und der Gunst des Publikums beschienen wurde,
geworden ist.
Kein schlechter Gedanke, Wengraf als Anatol debütteren zu
lassen, der in Hamburg einer seiner größten Erfolge gewesen
ist und ihm zugleich Gelegenheit gibt, sein Wienertum, das
er sich auch in der Fremde bewahrt hat, zu erweisen. Ist doch
der Anatol eine Figur, die zwar einer heute bereits in den
genannten besten Jahren stehenden Generation angehört, die
och auch dem jungen Mann von Anno 1932 nahesteht.
ser nämlich auch für Fußballsport schwärmt und um
s heute viel sachlicher denkenden süßen Mädels
weniger mit schönen Worten als durch den Besitz eines Autos
doch ein Schuß Sentimentalität und Nach¬
wirbt,
denklichkeit geblieben, der die Sache, die man Liebe nennt,
immer noch mit einem Schimmer von Romantik umkleidet.
Sein Erstauftreten als Anatol mußte auch deshalb
ders interessant erscheinen, weil man von der Neu¬
zenierung der fast klassischen Szenenreihe her in dieser Rolle noch
Raoul Aslan in Erinnerung hat. Nun, Wengraf ist jedenfalls
wienerischer. Er zeigt merkwürdigerweise, obwohl er jünger ist,
weit mehr den Anatol, den Schnitzler dem Leben und sich
selbst nachgezeichnet hat, als Aslan, der eher einen blasierten
Salonlöwen des 20. Jahrhunderts spielt. Der Debitant,
Gesichtschnitt mit den kurzen Koteletten der typische Wiener
Flaneur, spricht zunächst den Prolog mit großer Musikalität des
Wortes, poesievoll und doch natürlich, und entwickelt dann in
dem ersten Einakter („Die Frage an das Schicksal") eine wohl¬
tuend berührende Geschicklichkeit, die Pointen graziös fällen
zu lassen und dadurch um so wirksamer zu bringen. Mit leichter
Melancholie schildert er in den „Weihnachtseinkäufen" den
Typus des süßen Mädels und die Sehnsucht des von den
Frauen des Salons ohne Mut zur Tat geliebten Anatol, der
sich zur Liebe der Vorstadt flüchten muß. Reizend weiters,
wie er vom „Abschiedssouper" an einen selbstironisierenden
Humor und einen ganz scharmanten Ton der Noncholance
entwickelt. Jedenfalls eine Leistung, die anzeigt, daß das
Burgtheater wieder den lang entbehrten jugendlichen
Bonvivant gewonnen hat.
In den übrigen Rollen sieht man die Besetzung der Neu¬
inszenierung vom Januar, aus der die Annie Alma
Seidlers durch ihren sieghaften, einfallsreichen Humor
hervorragt, während Emmerich Reimers als Max diesem
Anatol gegenüber nicht genügend jung erscheint. Neu ist nur die
Cora Maria Kramers, die mit jeder neuen Rolle zeigt, wie
wertvoll sie einst dem Burgtheater werden wird. Sie gibt ein
primitives Vorstadtmädel in seiner ganzen Leichtigkeit und
Einfalt mit einer geradezu entzückenden Unbefangenheit. Die
übrigen Frauen und Mädchen um Anatol sind bei Lilli
Marberg, Ebba Johannsen und Maria Mayen in
bewährten Händen. Das Publikum ließ die Gelegenheit nicht
vorbeigehen, den neuen Anatol laut zu feiern.
Zyklus
4.9. Anatole-

„OBSERVER
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Ausschnitt aus:
Der Tag, Wien
A SEP. 12
Debut Hans Wengraf
Akademietheater — Anatol
* Nach Leopold Kramer, Gustav Waldau und
Raoul Aslan spielt nun Hans Wengraf den
Anatol. Keiner von seinen Vorgängern kam so
jung wie er zum Anatol, und keiner blieb ihm
so fremd, fast als hätte der Wiener Hans Wen¬
graf in Hamburg sein Wienertum verloren.
Aber es liegt nicht am Außerlichen der uner¬
lebten Bühnensprache ohne Schnitzlerische Melo¬
die und Klangfarbe, es liegt an der innerlichen
Distanz, die zwischen den Generationen klafft.
Um über dieses seelische Mißverstehen und Nicht¬
kennen der Voraussetzungen hinwegzuspielen,
die einen genießerischen Typ wie Anatol mög¬
lich machen, dazu wiederum ist Hans Wengrafs
Begabung zu schmal, zu sehr grau in Grau ge¬
halten. Es mögen ihm andere, schärfer kon¬
turierte Gestalten besser liegen, das wird sich
erst zeigen. Das Empfindsame, wo die anderen
nur genießen können, das Musikalisch=seelen¬
hafte, die innere Noblesse jedenfalls ist nicht
Wengrafs Sache. Sein Anatol wird nie beim
Heurigen sitzen und ein Glas Wein trinken, sein
Anatol ist auf Mineralwasser gestellt. Damit ist
das Burgtheater einen Schritt weiter auf dem
Weg zum Normal-Stadttheater gekommen. Von
den übrigen gibt Alma Seidlers Übermut
entfesseltes Theater, spielt Lilli Marberg eine
feine Damenparodie, plaudert Maria Mayen
mondäne Zurückhaltung und ist Emmerich
Reimers ein ins Kleinbürgerliche degra¬
0 m. i.
dierter Max.
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