II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 612


des „Anatole als seine erste Akademie¬
theater-Premiere sichtlich eine Reverenz vor
dem Geist des Österreichischen. Eine
Demonstration guten Willens, das öster¬
reichische zu pflegen, wenn er auch — wie
Hermann Röbbeling bei seinem ersten Er¬
scheinen im Burgtheater sagte — aus nord¬
lichen Bezirken kommt. Das heißt, herbere
Luft zu atmen gewöhnt ist.
Nun ist „Anatole burgtheaterreif gewor¬
den. Das hat er sich damals, vor 40 Jahren
als er zum ersten Male in die Literatur trat
wohl kaum gedacht. Und jetzt ist er schon
so etwas wie ein museales Kleinod. Aus
lächelnder, nachsichtig-kritisierender Satire
der Zeitgenossen wurde Historie. Wurde be
reits eine Geschichte aus der Geschichte.
Aber gerade, daß man den Anatol heute im
Kostüm spielen kann, zeigt, daß er von
einem Dichter geschaffen ist. Denn sonst
wären diese Menschen mit ihren oft ab¬
sichtlich müd-berspitzten Gedanken schon
längst zu geistigem Moder, zu Bücherstub,
zerfallen.
Arthur Schnitzlers „Anatol“ und die Ge¬
fährten um ihn leben, leben als ein Symbol
Wiens, wenn auch ihre Zeit unwiderbringlich
vorüber ist. Nicht weil die Strecke der uns
von ihnen trennenden Jahre so lange, nur
weil der Abgrund so tief ist, der sich zwi¬
schen damals und heute aufgetan hat. Allen
die irgendeinen Anatol noch selbst gekannt
haben, die mit diesen Menschen einer späten
Zeit gelebt haben, wird warm ums Herz,
wenn sie ihn heute wieder auf der Bühne
begegnen, aber auch die anderen, die Jun¬
gen können sich dem nachdenklichen
Scharm dieses schmerzlich Genießenden
schwer entziehen. Denn er ist doch ein lieber
Kerl, trotz allem ... Nur verstehen werden
sie ihn nicht mehr ganz. Daß eine Genera¬
tion schon in jungen Jahren alt ist, ihre
wirkliche oder nur zur Schau getragene
Wirklichkeit mit hypochondrischer Sorgfalt
beobachtet, ihre Lebenstraurigkeit preist
ist der heutigen, in das gegenteilige Extrem
entrierten Jungseinwollens verfallenen so
gut wie nicht vorstellbar.
Der Erfolg des „Anatol“ im Akademie¬
theater beweist nur, daß dieser Extrakt des
Wienertums (ein Extrakt von Zartheit) noch
so stark ist. Daß er immer noch Resonanz
findet. Die stets etwas dunstige, doch
gerade dadurch Schärfe mildernde, Härten
verklärende Art des Wienerischen, diese
weiche Wärme ist meisterhaft eingefangen.
Es ist das „andere, das „geheime“ Wien,
daß sich von den bekannten ganz und gar
unterscheidet.
Franz Herterich hat in seiner liebe¬
vollen Regie der Reihe dieser Szenen das
Aktuelle, Zeitgenössische genommen. Und
ihnen dafür den Reiz einer Unwirklichkeit
einer Entrücktheit gegeben. Ein Klavier,
beleuchtet von beschirmten Kerzen, be¬
gleitet mit leisester Schubert-Musik, wenn
Anatol noch vor dem Vorhang, lässig in
einem Fauteuil gelehnt, die Worte jenes
Prologs spricht, den der unheimlich hell¬
sichtige junge Loris, der dann zum Dichter
Hugo von Hofmannsthal werden sollte, ge¬
schrieben hat.
Wenn die Aufführung nicht ganz so
wurde, wie sie geplant war, sind wohl
„Besetzungsschwierigkeiten“ in erster Linie
daran schuld. Raoul Aslans Naturel
kommt die elegische Seite Anatols eher ent¬
gegen als die genießerisch oder gar die
selbst-ironische. Emmerich Reimers
macht aus dem Max weniger den Räsoneur
des Stückes als eine Art Leporello de¬
Anatol, womit aber manche Pointe verloren¬
geht. Den Reigen der Frauen um Anatol
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4.9. Anatol - Zyklu-


Wien,


de
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2. S.
nen Morgen, Samstag, eige¬
Anatol" aufgeführt. Die Titelrolle spielt zum erstenmal Hans
Wengraf, der damit sein Engagement am Burgtheater antritt.
In den übrigen Rollen wirken mit die Frauen Johannsen, Kra¬
mer, Marberg, Mayen und Weidler, die Herren Chöner und
E. Reimers, Anfang 20 Uhr.