II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 615

leichten Biedermeier-Koteletten, hat er
nichts, aber schon gar nichts vom leisen,
hold närrischen Herzens= und Gesprächs¬
charme des „leichtsinnigen Melancholikers".
Er spielt einen nachsichtigen Pedanten des
Liebesdialogs, der überdies erstaunlich
unwienerisch, ja in seiner gemessen mitge¬
launten Lustigkeit fast antiwienerisch wirkt.
Brutal, aber ehrlich: Also kein Anatol.
Außer Direktor Röbbeling überrascht das
niemand. Der junge Hans Wengraf, schon
in seiner noch locker begabten Volkstheater¬
zeit, deutete eine ganz andere Entwicklung
an. Keinesfalls die zum Bonvivant, wie ihn
das Burgtheater jetzt trotz Herrn Bettacs
persönder Zartheit und sanft verhaltener
Kultur der Empfindung energisch rekla¬
mieren zu müssen glaubt. Mit Recht, wenn
es einen in Tonfall und seelischem Akzent
österreichischen Parallelspieler sucht. Daß
der nicht zu finden, ist auch eine der ge¬
wissen leichtfertig parteiischen Behaup¬
tungen des hochoffiziösen Theatermarkts.
Röbbeling schätzt Herrn Wengraf auf
Grund erprobter Hamburger Beziehungen.
Man schätzt ihn selbst als einen im aktiv¬
sten Sinn auch heute noch jungen Schau¬
spieler von intensivem Ernst und unver¬
kennbar regem Gewissen. Von seinem Ehr¬
geiz wird man sich hoffentlich bald gegebe¬
nenfalls gern überraschen lassen.
Nur die Bonvivant=Träume scheinen,
loco, nach dieser Anatol-Kostprobe, gründ¬
lich erledigt. Herr Wengraf hat jene un¬
absichtlich beschattete Leichtigkeit, jene
galant müde Anmut, jene unbiegsam weiche
Mannessüße nicht, wie sie Kramer, Edt¬
hofer, Waldau ihrem Anatol geschenkt
haben, und Raoul Aslans kleiner Finger
zaubert mehr fürstlich phlegmatischen
Liebesgram hervor.... Es war eine
Fehlbesetzung, aber auch des Fachs. Wen¬
grafs kluge, diskret gesammelte Art, in
Wort und Blick den Pointen unauffälliges
Gewicht zu geben, spricht für eine Berufs¬
kultur, die am Burgtheater gewiß Raum
und Aufgabe fände.
Die Lösung der Bonvivantfrage ist
das nicht. Unerläßlich, ja förderlich gerade
für Herrn Wengrafs Burgtheatereignung,
dies gleich festzustellen. Eleganz, auch der
Seele, und namentlich diese ist in Wien
kein Intelligenzprodukt. Der Typus des
Causeurs selbstquälerischer Verführung hat
sich auch hier gewandelt, seit Ernst Hart¬
Esprit-Bäuchlein
mann noch ein richtiges
trug. Aber jene Melancholie der Unwider¬
stehlichkeit, jener Galgenhumor der Ab¬
schiedsträne und jenes Spötterlächeln am
offenen Grabe unentbehrlichster Illusionen
nein damit ließ sich dieser düstere und
bittere Anatol-Dozent gar nicht erst ein.
Ein Wort, und ein sehr befriedigtes,
Nebenbei über¬
der neubesetzten „Cora“.
ragen die Frauen wie am Premierenabend,
voran Alma Seidlers stürmisch köstliche
Annie, Frau Marbergs parodistische Elite¬
studie und Maria Mayens sanft flirrender
Herzenston. Als Cora aber liefert die

kleine Maria Kramer gar nicht mehr eine
Talentprobe. Das ist schon ein freches,
süßes, schmissiges Prachtgeschöpf, das volle
und apart blühende schauspielerische Natur
atmet. Knapp nach verdienstvoll revozier¬
tem „Abbau erlebt man — eine weiter¬
4.9. Anatol-
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Zykl
.
„OBSERVER
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Unternehmen für Zeitungs-Ausschnitte
WIEN, I., WOLLEILE 11
TELEPHON R-23-0-43
Ausschnitt aus:
Neues Wiener Tagblatt,
vom
6.9.1932.
Akademietheater. Als Anatol in Schnitzlers
graziös melancholischer Szenenreihe debükierte ein neuer Dar¬
steller: Hans Wengraf. Man hat noch einen andern Anatol
in der Erinnerung, den vor ein paar Jahren ein Meister
mit reifer Sicherheit gestaltete: Waldau. Das war ein ganz
weicher, zarter, fast lyrischer Anatol, verwundbar durch jeden
schärferen Hauch des Lebens. Wengraf war härter, in der
Kontur stärker betont, aber auch
er war voll von Schwärmerei und
Liebessehnsucht voll Hingebung an
den schönen Augenblick und voll
eines gläubigen Staunens vor dem My
sterium Weib. Dazu war er ganz er¬
füllt von jener Liebenswürdigkeit
die heute entschwindet, die aber
in einer besseren Zeit als diese
kapriziöse Dichtung Schnitzlers
entstand, wirklich noch ein Besitz
wienerischer Menschen war. Mit ei-
nem Wort: Herr Wengraf führte sich
sehr gut ein, und man wird neu-
gierig sein dürfen auf seine wei-
teren Leistungen im Burgtheater.
Einsehr kluger, beherrscher, je¬
der Situation mit praktischem
Sinn gewachsener Max war wieder
Herr Emerich Reimers. Und ein
hübscher Reigen von Frauen um¬
tanzte Ansko: allen voren Alma
Seidler, die im Abschiedssouper
eine entzückende Leistung bot. Im
gerundesten Bild des Abends, "Weih¬
nachtseinkäufe, war Frau Mayen
vortrefflich. Und die Damen Kramer
Marberg und Johannsen fügten sich
mit Humor und Grazie ins Spiel
ein. Nicht vergessen darf die hüb¬
sche, sorgfältige Regie Herrn Her¬
terichs werden. Und so wurde das
alter Werk zu einem neuen Erfolg.
Bemerkung über die Lächerlichkeit solcher
Zustände erübrigt sich — das Wunder
dieser drolligen und rührenden Ueber¬
raschung. Und die Freude an solch schönem
Einzelfall Burgtheaterjugend.
L. U.