II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 616

4.9. Anatol-
Zyklus
„OBSERVER
I. österr. behördl. konzessioniertes
Unternehmen für Zeitungs-Ausschnitte
WIEN, I., WOLLZEILE 11
TELEPHON R-23-0-43
Ausschnitt aus:
ten Wien
Wr. Neueste la
vom
b. E. 1932
Ein neuer Anatol
Akademie heater
Anatol, der Hypochonder der Liebe, mit der großen Sehn¬
sucht nach dem Glück, mit der ständigen Einsicht in die
Trughaftigkeit des Lebens, mit der argen Mitgift eines nach
innen gewandten bösen Blickes ausgestattet, vor dem die
besten Empfindungen dahinsichen — er ist eine tragische
Gestalt. Hans Wengraf, der neue Bonvivant des Burg¬
theaters, debitierte im Schnitzlerschen Frühzyklus. Elegante
Erscheinung und saubere Sprachten dürfen wir an ihm
rühmen. Aber er ist kein Anatol. Er spricht, sich nur strecken¬
weise aufs Wienerische besinnend, die glatten Worte und
hübschen Formeln, doch nicht die der „bösen Dinge“, von
denen in Hofmannsthals Prolog die Rede ist. Herrn Wen¬
graf fallen die Bonmots von den Lippen als seien sie nicht
von Anatol, sondern von Schnitzler. Er ist eine Marionette
in der Hand des Puppenspielers Schnitzler, statt es in
den Händen eines Größeren, des Schicksals, zu sein. Nir¬
gends reißt er die Hinterwelt auf, dringt er in die Zone
vor, wo Wahrheit und Lüge, Wirklichkeit und Traum im Zwie¬
licht ineinanderfließen, gibt er das Tragische dieser Ge¬
stalt, die, ein Gemisch aus Leichtsinn und Melancholie, auch
heute noch nichts von ihrer Gültigkeit verloren hat. Die
einzelnen Stücke des Zyklus sind dahingeplauderte Schau¬
spiele eines immer von neuem entzauberten Illusionen¬
menschen (in der „Episode" muß man an E. Th. A. Hoff¬
mann denken). All das blieb die Aufführung des Akademie¬
theaters uns schuldig, wenn sich auch die Damen wacker
hielten. Dafür sind in die feinen Dialogstücke Possenfremd¬
körper eingedrungen. Die Ja's Wengrafs vor den Fragen
an Cora, seine Ueberfeierlichkeit zu Beginn der „Episode
die drei Glas Wasser am Hochzeitsmorgen: Wengraf wird
seine schauspielerischen Fähigkeiten in einer anderen Rolle
Nr.
nachweisen müssen.
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„OBSERVER
I. österr. behördl. konzessioniertes
Unternehmen für Zeitungs-Ausschnitte
WIEN, I., WOLLZEILE 11
TELEPHON R-23-0-43
Ausschnitt aus:
Neue Freie Presse
7.9.1932
vom
Theater= und Kunstnachrichten.
vom
(Akademietheater.) Herr Hans Wengre
Deutschen Schauspielhaus in Hamburg, dem Burgtheater nunmehr
verpflichtet, gibt jetzt im Akademietheater den Anatol in
Schnitzlers reizvoller Einakterreihe. Einen leichtsinnigen Melan¬
cholier, so nennt sich dieser täsonierende Analytiker selbst, der
die Mode eines schon gewesenen, eines schon entfernten Wien
trägt und in „halben, heimlichen Tönen" von Liebesagonien und
Episoden spricht. Den Leichtsinn im Melancholischen ließ Herr
Wengraf ein wenig vermissen, vielleicht lastet auch auf ihm diese
Zeit, die ganz andere Probleme bedrängen, als sie jene andere,
liebenswürdig verblaßte kannte. Ein eleganter Melancholier, das
ist Herr Wengraf. Elegant in der Haltung, in der Kunst des
Gespräches, nicht zu unterstreichen, nur leichthin zu pointieren.
Elegant ist er auch im Erfassen und Darbieten des Geistigen, das
hinter diesen Dialogen blitzt. Eine skeptische Philosophie in Liebes¬
dingen, dieser Anatol präsentiert sie mit leichter Schwermut ohne
Schwere, ob er der Mondänen bei den Weihnachtseinkäufen das
süße Mädel schildert oder sein Schicksal, verabschiedet zu werden,
statt den Abschied zu geben, im „Abschiedssouper mit Fassung
trägt. Delikat wie sein Empfinden, wie sein Lustspielten ist seine
Art, Verse zu distinguieren — er sprach den Hofmannsthalschen
Prolog mit verhangener Grazie. Herr Wengraf ist von Harry
Walden zuerst entdeckt und einer Wiener Bühne gewonnen
worden. Etwas von der seelischen und schauspielerischen Distanziert¬
heit des Unvergeßbaren ist in diesem Darsteller des Anatol. Eine
in den Tagen auch des derberen Theaters nicht eben häufige
Eigenheit — schon darum wurde er mit herzlichem und ver¬
P. W.
stehendem Beifall bedacht.