II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 654

4.9. Anatol - Zyklus
box 9/5
er von
+ Bureau für 4.
9
Zeitungsausschnitte und Verlag
der Wissenschaftlichen Revue.
BERLIN N., Auguststr. 87 part.
Telephon Amt III, No. 3051.


ne
Telegramm Adresse Ausschnitt
COLOSCHMIDT, Auguststr. 87.
aus
Si le
Wien, 1.
Der hervorragendste aller Dekadenten ist der schon öfter erwähnte Wiener
Arthur Schnitzler. Obgleich seine Dichtungen, vornehmlich. Scenenbilder
„Anatol 1893“) vom denkbar stärksten Décadence=Kolorit durchsättigt sind und
darum den Leser in die unbehaglichste Stimmung von der Welt versetzen, erscheinen
sie doch durch ihre Aufrichtigkeit und Selbsterkenntnis geadelt. Mit peinlicher
Akkuratesse seziert der Dichter seine Probleme, und erklärt dem staunenden Leser
resigniert lächelnd die angefaulten Körperstellen. An Geist vermag sich mit ihm kein
einziger Dekadent zu messen. Schnitzlers Werken sprühen förmlich von feinen, geist¬
reichen Gedanken und Sentenzen. Er ist gewissermaßen der Klassiker der Décadence,
aber darum nicht minder krank, als die übrigen.
Der Haupttenor seiner litterarischen Thätigkeit ist entweder das süße Mäd¬
d. i. ein Vorstadtmädchen, das in der Stadt geliebt wird und wieder liebt, bis
nun bis der eine der beiden Theile etwas anderes gefunden hat, oder es ist eine
von den umgekehrten Afras, die gegen Champagner und Anstern eventuell Boutons
u. ä. ihre Reize im Ausstreich an den Mann bringen, der sich nicht lumpen läßt.
Ab und zu kommt eine verheirathete Frau daran, deren Mann natürlich!) als ein
höchst dummer und höchst langweiliger Patron geschildert wird und die darum in
den Armen eines blasirten Burschen, der alle Menschen, sich ausgenommen, verachtet,
die ihr gebührende Erniedrigung zur Dirne findet. Die Männer, welche Schnitzler
in seinen Lust=Mädliaden und Ehebrücheleien schildert, sind in jeder Beziehung
uneruickliche, marklose, feige Geschöpfe, die für gar nichts anderes, als für die
Befriedigung des Geschlechtstriebes Sinn haben — geradezu infam handelt Anatol,
als er am Abend vor seiner Hochzeit eine Dirne zu sich nimmt, um in deren Armen die
Nacht zu verleben, während ihm noch die Küsse seiner Braut auf den Lippen brennen.
Das heißt man doch die ethische Verluderung auf die Spitze treiben! Wenn irgend
eines von den sogenannten „Wiener Witzblättern“ (eine sehr traurige Spezialität der
einzigen Kaiserstadt!"), die den Witz in der Gemeinheit und den Humor in der
Frechheit suchen, wenn solch' ein Blatt derlei in seinen schmutzigen Spalten bringt,
so kann man es ruhig hinnehmen, falls jedoch Jemand dergleichen die Lüsternheit
kitzelnde Sächelchen als Litteraturwerk anerkannt wissen will, so muß dagegen ent¬
schieden Verwahrung eingelegt werden. Schon wegen der Einseitigkeit, die sich hier
aus spricht; sobald man nur eines von diesen dramatischen Feuilletons gelesen hat,
so kennt man auch schon alle anderen. Es ist eine trotz alles Aufwandes an Geist
ermüdende, quälende Lektüre, das stete odeur de sommes stumpft die Aufmerksamkeit
ab und die subtile Selbstquälerei des Anatole, nicht etwa wegen der ethischen Ver¬
luderung, sondern lediglich aus der Frage: „ist sie (die Dirne!) dir tren?" hervor¬
wachsend, wirkt auf die Dauer langweilig und widerlich. Schnitzlers Dramen „Das
Märchen“, „Liebelei", „Freiwild“, „Die Gefährtin" rc. gehen im Ganzen und
Großen auf denselben Pfaden, das Erstgenannte ist das Bedeutendste (vielleicht eben
deshalb im Deutschen Volkstheater durchgefallen), die Anderen (obzwar im Hof¬
burgtheater aufgeführt) hingegen unsäglich matt und abgestanden.
Ausschnitt aus:
gemeine Anzeige
vom
re
Anator. Die Liebe von Mann und Weib gleicht
einem starken Baum mit mächtiger Krone. Sie selbst
ist der Mann. Die Aeste und Zweige, die Blätter, Blü¬
ten und Früchte, welche die Krone bilden, sind ihre
Lebensäußerungen, die Empfindungen und Leidenschaf¬
ten, welche sie auslöst, die tausenderlei Fragen, Pro¬
bleme und Konflikte, die sie hervorruft. Zu allen Zei¬
ten sind Dichter und Künstler zu diesem Baume gewalt,
um sich Nahrung zu holen für ihr Schaffen. Auch Artur
Schnitzler ist des öfteren gekommen. Er hat aber
nicht von den duftenden Blüten oder Früchten genom¬
men, sondern sich mit unscheinbaren, verkümmerten,
herbstfarbenen Blättchen begnügt und diese mit dem
gleißenden Flittergolde einer Kunst umsponnen. Vier
davon sind der Einakterzyklus „Anatol geworden.
Es sind wirklich nichts anderes als eben vier Akte, die
nur die Hauptperson gemeinsam haben. Und diese
Hauptperson Anatol ist ein reicher, verschwenderischer
Müßiggänger, der keine höhere Daseinsbestimmung
kennt, als den Augenblick zu genießen, die Liebe in
allen möglichen Gestalten und Variationen durchzu¬
kosten und von ihr sich treiben zu lassen. Daß dieses Be¬
streben ihn entnerren, seine Willenskraft schwächen,
ihn zum großen Kinde machen muß, ist wohl selbstver¬
ständlich. Und so sieht man in diesen vier Akten nichts
anderes, als wie sich dieses Nerven= und Sinnenbündel
in vier verschiedenen Liebesaffären ausnimmt, wie es
liebt, was es dabei denkt und fühlt. Es ist ja wahr: die
vier Akte sind Kabinettstücke psychologischer Charakter¬
zeichnung, sie sind Momentbilder des Lebens von
überraschen Deutlichkeit und Wahrheit. Aber sind
eben nur dies und haben nur als solche Bedeutung.
Dem literarischen Feinschmecker mögen sie ja gefallen;
aber jeder, der ins Theater geht, entweder um sich über
seine Alltagssorgen zu erheben oder diese durch Unter¬
haltung für einige Stunden abzustreifen, wird ent¬
täuscht sein. Die paar geistreichen oder vielmehr geist¬
reichelnden Aphorismen, die in den Einaktern ver¬
streut sind, können nicht entschädigen. — Der Einakter=
zyklus fand vorgestern eine sorgsam einstudierte Auf¬
führung. Gustav Heppner, der sie leitete, gab die Titel¬
rolle. Sein Anatol war gerade so, wie ihn Schnitzler
gezeichnet hat. Die Aufgabe, die der Dramatiker hier
dem Schauspieler stellt, ist nicht leicht. Um sie befriedi¬
gend zu lösen, muß sich dieser ganz in das Seelen= und
Sinnleben seines „Helden" versenken und auf alle
Feinheiten und Finessen dieses komplizierten Charak¬
ters eingehen können. Und das hat Heppner getan.
Frl. Gamina war Anatols erstes Liebchen Cora. Sie
brauchte in dieser Rolle nur zu zeigen, daß sie gut
schlafen und küssen kann. Fr. Speydel gab die Gabriela,
die Dame der großen Welt. Mit eleganter, seiner Ironie
wußte sie ihren früheren Liebhaber Anatol abzu¬
kanzeln, und das leise, leichte Auflackern neuer Zunei¬
gung und deren stille Bekämpfung darzustellen. Frl.
Schrattenbach war eine richtige Balettratte, die von
einem Liebhaber zum anderen schlüpft. Nur hätte sie
den Schampusschwips, in dem sie sich zu Ende des Akte¬
äußert, etwas deutlicher geben sollen. Frl. Kreß gab
Anatols letztes illegitimes Liebchen knapp vor seiner
Hochzeit mit der nötigen Leidenschaftlichkeit und Reso¬
lutheit. Auch Karma als Anatols Freund und Ge¬
fährte auf dessen Liebespfaden war recht gut. Sein
Max war ein wahrer, aufopfernder Freund, der manch¬
mal mit beißender Satyre Anatols verschwommene
Willensäußerung glossierte. Das Publikum, welches
nicht gar zahlreich zu dieser Vorstellung erschien, hat
sie mit Beifall begleitet. Die Blumenpest, die seit lan¬
gem schon in der Operette ihr Unwesen treibt, beginnt,
s.
nun auch im Schauspiel zu grassieren.