II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 655

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(ebensowenig wie Anatol ganz Jung=Wien vorstellt), aber, so
wie es ist, konnte es nur in Oesterreich entstehen, hat echt öster¬
4.9. Anatol - Zyklus
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reichischen Stil. Dies halb südliche Temperament eines begabten
Volkes, mit einer großen Empfänglichkeit für alle Lebensreize,
mit einer hübschen Neigung sich und andern gern etwas vor¬
zuspielen, dazu die Wiener Großstadtironie — dies alles nahm
der Dichter zusammen und schuß daraus die Figur des Anatol
Alles in allem: man kann sehr viel, aber will man eigentlich
etwas? Neuerdings und besonders infolge der letzten Ereigni߬
trifft man nun auch in Oesterreich wieder Leute, die viel wollen.
Man sieht und hört sie in den Kaffeehäusern, sie diskutieren in
den Gemeinderäten und in den Zeitungen; sie haben oft preußische
Ideale, auch wenn sie auf die Preußen jetzt und früher schimpften.
Ste lernen sogar etwas, was bisher dem deutschen Oesterreicher
tum so ziemlich gänzlich versagt war: Sachlichkeit.
Merkwürdig, wie wenig Leute man bisher in Oesterreich
traf, die sachlich sein konnten. Diese Eigenschaft „Sachlichkeit
liegt nicht im Programm der Rasse. Sprach man einmal mit
einem Oesterreicher über seine politischen Angelegenheiten, so kam
eine solche Fülle von Voreingenommenheiten, subjektiven Meinungen,
Haß ohne Prüfung, Leidenschaft ohne Begründung heraus, daß
der Ausländer und insbesondere der Reichsdeutsche wie vor einem
unentwirrbaren Knäuel stand. „Hoffnungslos — Kein Mensch
kann da durchfinden —!" Das war gewöhnlich die Antwort, die
einem in den letzten zwanzig Jahren jeder Reichsdeutsche gab, dem
man von innerer österreichischer Politik sprach. Das lag weniger
am Stoff als an der Art, wie die Oesterreicher ihn darstellten.
aus.
Und man gewann die Ueberzeugung jenseits der schwarz=gelben
Sie
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Grenzen, daß die inneren Angelegenheiten dieser Monarchie einen
vom
Rattenkönig von Fragen darstellten Dieser völlige Mangel an
Sachlichkeit mag vielleicht alte Erbschaft aus süddeutschem und
keltischem Blute sein; er ist sicher auch eine Folge der nun jahr¬
Anatols Wandlungen.
zehntelangen Sticheleien und Ränke der Völker untereinander, des
unablässigen Federkrieges, der endlosen Streitigkeiten, der steten
Eine Wiener Studie.
Vergiftung einer ewig neu aufgepeitschten öffentlichen Meinung.
Eine fein psychologische Skizze bringt die „Köln. Z." aus
In bezug auf Sachlichkeit hat der Oesterreicher von dem
der Feder eines Wiener Mitarbeiters, der den Versuch macht, kühlern Norddeutschen alles zu lernen. Sachlichkeit ist nicht nur
die inneren Wandlungen Anatols unter den Einwirkungen des eine, es is „die deutsche Eigenschaft. Weil er allein von allen
Krieges zu schildern, jenes Anat, den wir von Schnitzlers Völkern Europas imstande ist, sachlich zu denken, darum hat der
Dialogen als den Typus des Wiener Lebenskünstlers, des der Deutsche bisher den Weltkrieg gewonnen und wird ihn weiter
wähnten Lieblings der Frauen kennen, dessen weiche, spielend
gewinnen. Eine Sache sich genau ansehen, sie nach allen Seiten
und dabei nachdenkliche Auffassung des Lebens nun plötzlich sich
erforschen, sie nach ihren guten und üblichen Wirkungen be¬
mit den gewaltigen Ereignissen einer Sturmzeit auseinandersetzen trachten, dabei von jeder Beziehung zur eigenen Person und deren
mußte. Als Reserveoffizier ist Anatol sofort dem Ruf zur Fahn
Vorteil absehen — das ist weder englisch noch französisch noch
gefolgt. Wie wird sich sein Charakter jetzt wandeln? Ein
slawisch, das können nur Deutsche, und darin liegt eine der
interessante Lösung stellt die folgende Studie dar:
tiefsten Wurzeln deutscher Macht. Und nachdem dieser Denkprozeß
Anatol wußte in den Tagen des Friedens wohl selbst nicht, beendet ist, sich die Mittel zu einer Aufgabe zurechtlegen, sie dann
wie sehr er seine eigene Wichtigkeit überschätzte. Wie konnte er mit hartem Willen durchführen —, mit dieser Methode werden
das auch: In den kleinen, im Grunde sehr engen Kreisen der die Staatsmänner beider Nationen künftig ihre Aufgaben lösen,
Hauptstadt, wo er verkehrte, war er tonangebend, spielte er und ihre Völker werden auch mit ein bißchen weniger Kirch¬
die erste Rolle. Und er hatte seine Bewunderer, nicht bloß turmsinteresse und mit weniger Subjektivität leben müssen.
in den Kreisen der Frauen. Die Komtesse, die Salondame wie Anatol, wenn er politisch wird, wird ein neues Leben anfangen
Gabriele, die Frau Hofrätin und ihre Töchter, die Mizzi von massen; an Spielraum wird es ihm in dem neuen Oesterreich
Hernals — daß die ihn gern hatten und warum sie ihn gern nicht fehlen.
hatten, das wußte er schon. Und er hatte sie ja auch gern, jede in
Eigentlich irrt man, wenn man ein neues Leben anfängt;
ihrer Weise. Das heißt — die Sache bei Licht betrachtet, hatte man fängt immer nur das alte an. Am Ende hat Anatol gar
er jemals eine von ihnen wirklich geliebt? Es war ihm doch
keine Lust, sich zu wandeln? Das alte Leben war so hübsch und
immer nur um die Wirkung zu tun gewesen, daß es so aussähe, die Luft im Vaterlande so weich, und Mizzi und Christine werden
als ob er sie heftig liebe; dabei ging er innerlich nie von dem
ihm vielleicht Treue bewahrt haben oder etwas, was man un
Grundsatz seiner ängstlichen Furcht ab, daß nur ja keine Fessel gefähr so nennen kann. Und wenn nicht — nun, dann richtet
aus der Geschichte werde und überhaupt, daß kein „Echaufferent" man sich eben anders ein; man findet auch eine andere Mizzi
dabei herauskomme. „Wirkung war eben alles im Leben. Das und eine andere Christine. Aber werden all diese schönen Dinge
bewunderten ja auch seine Freunde an ihm, und darum schätzten nach diesem Kriege und wenn erst der Frieden wieder da ist, noch
sie den Lebenskünstler in ihm, daß er so viele Rollen in der Lieb¬
ebenso hoch gewertet werden? Die ästhetischen Spielereien, der
spielen konnte und bei jeder mit ganzer Seele dabei zu sei¬
Schauspielerkultus, die Sucht, sich um eine Rolle von Baumeister
schien, während er doch nie etwas von sich hergab. Sobald er oder Sonnenthal ein halbes Jahr zu streiten? Am Ende hat
über eine Geliebte reflektierte, war sie eben auch schon halb für man den Appetit daran etwas verloren. Es ist so schwer, das zu
ihn erledigt, und dann mußte etwas Neues kommen, um ihm, dem sagen. Anatol könnte, wenn er der alte bleibt, seine unzweifel¬
leichtsinnigen Melancholiker, wieder genügend Beschäftigung zu
haften Gaben auch praktisch ausnutzen. Man wird vielleicht nach
geben. Das war das Leben seiner Jugend, das so viel Reiz und
diesem Frieden eine bestimmte Sorte von Diplomaten nötiger
Abwechslung und, nach seiner Meinung, auch einen tiefern Sinn haben als früher, um dies verhetzte und verbitterte Europa zunächst
hatte. Und dies Leben wurde besonders von denen bewundert wieder ein bißchen in Ordnung zu bringen. Die Völker geschickt
die nicht viel Retz und gar nicht viel Abwechslung in zu umschmeicheln, um ihnen gewisse harte Bissen mundgerecht zu
ihrem Dasein gehabt hatten, sondern die es in ernster machen, das wird zunächst einmal nötig sein, und das war zu
Arbeit hatten hinbringen müssen. Denn das ist nun einmal manchen Zeiten eine gute österreichische Spezialität. Hierin ist der
so auf der Bühne des Lebens wie auf der von Holz und Oesterreicher dem Norddeutschen überlegen. Das wäre eine Auf¬
Leinwand, daß der Ernste und Tüchtige gewöhnlich niemand
gabe für Anatol; er wird das geschickt machen, ebenso geschickt,
sehr bewundert als den lächelnden Nichtstuer, den eleganten wie er mit den Frauen umzugehen wußte. Und wie gesagt, die
Genießer, eben weil der so ganz anders ist, als er selbst. Die Norddeutschen ihrerseits sind sehr ungeschickt darin, Völkern mit