II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 658

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4.9. Ana
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Erbteil alter Kulturen und guter Überlieferungen ist. Darum
en.
kennt er ja auch trotz seiner ewigen Liebschaften keine wirkliche
, im August.
Leidenschaft, denn die Leidenschaft fragt nichts nach der Form;
sie geht rücksichtslos über diese weg. Für Anatol wäre es
schmeichelt sich
„horrend", etwa zum Girardi=Hut ein schwarzes Beinkleid zu
Morgen seines
tragen, und er würde bei der leidenschaftlichsten Liebeserklärung
ließ, damit, daß
schleunigst aufstehen, wenn er an seinem Rocke oder an der Hose
werde, aber so
einen Schmutzfleck entdeckte. Er hat eben diesen ausgeprägten
Männer stets der
Sinn fürs Außerliche, der eine Eigenschaft seiner Rasse ist. Ein
chungen nicht zu
Nachteil? Darüber kann man verschieden urteilen. Der Sinn
Ernst der Zeit,
für das Außerliche und die Form ist etwas Wesentliches, im
niger Zeit, daß
Verkehr sowohl der Menschen wie der Völker, bei den kleinen
Unruhe der zwei
Ereignissen des Gemütes wie bei den Dramen der Politik. Man
ihn erfaßt hatte.
kommt viel weiter, wenn man gewisse Berechnungen unter sehr
der patriotischen
liebenswürdigen Formen versteckt; das höchste ist, diesen Formen
da änderte sich
den Anschein einer großen Natürlichkeit und Ungezwungenheit
izier, er hat also
zu geben. Dem Norddeutschen fällt dies außerordentlich schwer,
seine Schuldig
der Österreicher macht es spielend. In der Figur Anatols steckt
5. Das frühere
daher sicher Stil, so wie in einem Lannerschen Walzer Stil steckt,
entschwundenen
in einem Makartschen Gemälde oder in den großen Renaissance¬
mern, von den
palästen am Ring. Das alles ist nicht etwa ganz Österreich
mit einer ge¬
ebensowenig wie Anatol ganz Jung=Wien vorstellt), aber, so
and in der seinen
wie es ist, konnte es nur in Österreich entstehen, hat echt öster¬
e. Nichts mehr
reichischen Stil. Dies halb südliche Temperament eines begabten
den Frühlings¬
Volkes, mit einer großen Empfänglichkeit für alle Lebensreize,
de schlüpfte, wie
mit einer hübschen Neigung, sich und andern gern etwas vor¬
hnachtseinkäufe
zuspielen, dazu die Wiener Großstadtironie — dies alles nahm
Abschiedsfouper
der Dichter zusammen und schuf daraus die Figur des Anatol.
wird er wahr¬
Alles in allem: man kann sehr viel, aber will man eigentlich
sie erleichtert ja
etwas? Neuerdings und besonders infolge der letzten Ereignisse
les ist also nun
trifft man nun auch in Österreich wieder Leute, die viel wollen.
zogen. Die Be¬
Man sieht und hört sie in den Kaffeehäusern, sie diskutieren in
die Beförderung,
den Gemeinderäten und in den Zeitungen; sie haben oft preußische
Christine. Die
Ideale, auch wenn sie auf die Preußen jetzt und früher schimpften.
Interesse; der
Sie lernen sogar etwas, was bisher dem deutschen Österreicher¬
gte, unter pein¬
tum so ziemlich gänzlich versagt war: Sachlichkeit.
gerlich muß man
Merkwürdig, wie wenig Leute man bisher in Österreich traf,
selbst nicht, wie
die sachlich sein konnten. Diese Eigenschaft „Sachlichkeit liegt
konnte er das
nicht im Programm der Rasse. Sprach man einmal mit einem
eisen der Haupt¬
Österreicher über seine politischen Angelegenheiten, so kam eine
er die erste Rolle.
solche Fülle von Voreingenommenheiten, subjektiven Meinungen,
eisen der Frauen.
Haß ohne Prüfung, Leidenschaft ohne Begründung heraus, daß
an Hofrätin und
der Ausländer, und insbesondere der Reichsdeutsche wie vor einem
ihn gern hatten,
unentwirrbaren Knäuel stand. „Hoffnungslos —! Kein Mensch
n. Und er hatte
kann da durchfinden —!“ Das war gewöhnlich die Antwort, die
— die Sache bei
einem in den letzten zwanzig Jahren jeder Reichsdeutsche gab,
klich geliebt? Es
dem man von innerer österreichischer Polnis sprach. Das lag
gewesen, daß es
weniger am Stoff als an der Art, wie die Österreicher ihn dar¬
innerlich nie von
stellten. Und man gewann die Überzeugung jenseits der schwarz¬
ja keine Fessel
gelben Grenzen, daß die innern Angelegenheiten dieser Monarchie
„Echaussement
einen Rattenkönig von Fragen darstellten. Dieser völlige Mangel
im Leben. Das
un Sachlichkeit mag vielleicht alte Erbschaft aus süddeutschem und
tum schätzten sie
keltischem Blute sein; er ist sicher auch eine Folge der nun jahr¬
der Liebe spielen
zehntelangen Sticheleien und Ränke der Völker untereinander,
schien, während
des unablässigen Federkriegs, deren Streitigkeiten, der
ser eine Geliebte
steten Vergiftung einer ewig neu aufgepeitschten öffentlichen
ledigt, und dann
Meinung. In bezug auf Sachlichkeit hat der Österreicher von dem
sinnigen Melan¬
kühlern Norddeutschen alles zu lernen. Sachlichkeit ist nicht nur
Das war das
eine, es ist „die deutsche Eigenschaft. Weil er allein von allen
lung und, nach
Völkern Europas imstande ist, sachlich zu denken, darum hat der
Und dies Leben
Deutsche bisher den Weltkrieg gewonnen und wird ihn weiter
el Reiz und gar
gewinnen. Eine Sache sich genau ansehen, sie nach allen Seiten
ten, sondern die
erforschen, sie nach ihren guten und schädlichen Wirkungen be¬
enn das ist nun
trachten, dabei von jeder Beziehung zur eigenen Person und deren
er von Holz und
Vorteil absehen — das ist weder englisch noch französisch noch
lich niemand so
slawisch, das können nur Deutsche, und darin liegt eine der tiefsten
eleganten Ge¬
Wurzeln deutscher Macht. Und nachdem dieser Denkprozeß be¬
bst. Die Provinz
endet ist, sich die Mittel zu einer Aufgabe zurechtlegen, sie dann mit
Elemente, und in
hartem Willen durchführen —, mit dieser Methode werden die
d Arbeiter, auch
Staatsmänner beider Nationen künftig ihre Aufgaben lösen, und
urechtzukommen.
ihre Völker werden auch mit ein bißchen weniger Kirchturms¬
tol, den liebens¬
interesse und mit weniger Subjektivität leben müssen. Anatol, wenn
sehen klatschen


ebenso hoch gewertet werden? Die ästhetischen Spielereien, der
Schauspielerkultus, die Sucht, sich um eine Rolle von Baumeister
oder Sonnenthal ein halbes Jahr zu streiten? Am Ende hat
man den Appetit daran etwas verloren. Es t so schwer, das zu
sagen. Anatol könnte, wenn er der alte bleibt, seine unzweifel¬
haften Gaben auch praktisch ausnützen. Man wird vielleicht nach
diesem Frieden eine bestimmte Sorte von Diplomaten nötiger
haben als früher, um dies verhetzte und verbitterte Europa
zunächst wieder ein bißchen in Ordnung zu bringen. Die Völker
geschickt zu umschmeicheln, um ihnen gewisse harte Bissen mund¬
gerecht zu machen, das wird zunächst einmal nötig sein, und das
war zu manchen Zeiten eine gute österreichische Spezialität.
Hierin ist der Österreicher dem Norddeutschen überlegen. Das
wäre eine Aufgabe für Anatol; er wird das geschickt machen,
ebenso geschickt, wie er mit den Frauen umzugehen wußte. Und
wie gesagt, die Norddeutschen ihrerseits sind sehr ungeschickt darin,
Völkern mit Erfolg zu schmeicheln. Anatol würde als Diplomat
gewiß Erfolge haben. Keine schlechtern als Friedrich v. Gentz,
der in der österreichischen Staatskunst vor hundert Jahren eine
bemerkenswerte Rolle gespielt hat, und der ja in seiner Jugend auch
eine Art Anatol gewesen ist. Dem müßte unser Held nach¬
eifern. Und es ware nicht der schlechteste Witz, wenn sein Dichter
nach so viel hübschen Episoden, die voll Jugend und Liebe und
Glut sind, noch einen Ergänzungs=Dreiakter schreiben könnte:
„Exzellenz Anatol“.