II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 657


Ausschnitt aus:
in
vom 22. 1916.
Anatols Wandlungen.
. Wien, im August.
Apitol hat, wie wir wissen, geheiratet. Zwar schmeichelt sich
die reizende und leichtsinnige Ilona, die er am Morgen seines
Hochzeitstages aus seinem Frühstückszimmer entließ, damit, daß
sie in das besagte Frühstückszimmer zurückkehren werde, aber so
ganz gewiß ist das nicht. Die Ehe ist für die Männer stets der
willkommenste Vorwand, alle möglichen Versprechungen nicht zu
halten. Und auch Anatol hat sich unter dem Ernst der Zeit,
dieser Zeit, gewandelt. Er fühlte schon seit einiger Zeit, daß
er nicht mehr derselbe war, daß die dumpfe Unruhe der zwei
Jahre, die dem großen Kriege vorangingen, auch ihn erfaßt hatte.
Als der Krieg nun ausbrach, als es wie ein Schrei der patriotischen
Entrüstung durch alle Völker Mitteuropas ging, da anderte sich
auch Anatols Leben. Natürlich ist er Reserve=Offizier, er hat also
sofort des Kaisers Rock angezogen, und tut tapfer seine Schuldig
keit auf den Schlachtfeldern Polens und Galiziens. Das frühere
Leben liegt hinter ihm wie der Traum aus einer entschwundenen
Zeit. Nichts mehr von den dämmigen Zimmern, von den
Ampeln mit verschleierten Licht, unter denen sichs mit einer ge¬
liebten Frau so gut plauderte, während man ihre Hand in der seinen
hielt oder mit den Fingern in ihrem Haare spielte. Nichts mehr
von den kleinen Vorstadthäusern, in die man an den Frühlings¬
abenden so gern zu seiner Mizzi oder Christine schlüpfte, wie
Egmont zu seinem Clärchen. Er wird keine „Weihnachtseinkäufe
mit Gabriele mehr machen, allerdings auch kein „Abschiedssouper
mit der handfesten Annie mehr feiern. Das letztere wird er wahr¬
scheinlich gar nicht einmal sehr bedauern; der Krieg erleichtert ja
alle Abschiedsformalitäten so wesentlich. Das alles ist also nun
vorbei. In seine Seele sind andere Ideale eingezogen. Die Be¬
lobigung seines Vorgesetzten, das Verdienstkreuz, die Beförderung,
das ist ihm jetzt weit wichtiger als Mizzi und Christine. Die
Einzelheiten der Uniform sind von allerhöchstem Interesse; der
Schneider war, als er die neue Uniform anfertigte, unter pein¬
licher Überwachung. Nicht nur innerlich, auch äußerlich muß man
des Dienstes fürs Vaterland würdig sein!
Anator wußte in den Tagen des Friedens wohl selbst nicht, wie
sehr er seine eigene Wichtigkeit überschätzte. Wie konnte er das
auch? In den kleinen, im Grunde sehr engen Kreisen der Haupt¬
stadt, wo er verkehrte, war er tonangebend, spielte er die erste Rolle.
Und er hatte seine Bewunderer, nicht bloß in den Kreisen der Frauen.
Die Komtesse, die Salondame wie Gabriele, die Frau Hofrätin und
ihre Töchter, die Mizzi von Hernals, — daß die ihn gern hatten,
und warum sie ihn gern hatten, das wußte er schon. Und er hatte
sie ja auch gern, jede in ihrer Weise. Das heißt — die Sache bei
Licht betrachtet, hatte er jemals eine von ihnen wirklich geliebt? Es
war ihm doch immer nur um die Wirkung zu tun gewesen, daß es
so aussähe, als ob er sie heftig liebe; dabei ging er innerlich nie von
dem Grundsatz seiner ängstlichen Furcht ab, daß nur ja keine Fesse
aus der Geschichte werde und überhaupt, daß kein „Echaussement
dabei herauskomme. „Wirkung war eben alles im Leben. Das
bewunderten ja auch seine Freunde an ihm, und darum schätzten sie
den Lebenskünstler in ihm, daß er so viele Rollen in der Liebe spielen
konnte und bei jeder mit ganzer Seele dabei zu sein schien, während
er doch nie etwas von sich hergab. Sobald er über eine Geliebte
reflektierte, war sie eben auch schon halb für ihn erledigt, und dann
mußte etwas Neues kommen, um ihm, dem leichtsinnigen Melan¬
choliker, wieder genügend Beschäftigung zu geben. Das war das
Leben seiner Jugend, das so viel Reiz und Abwechslung und, nach
seiner Meinung, auch einen tiefern Sinn hatte. Und dies Leben
wurde besonders von denen bewundert, die nicht viel Reiz und gar
nicht viel Abwechslung in ihrem Dasein gehabt hatten, sondern die
es in ernster Arbeit hatten hinbringen müssen. Denn das ist nun
einmal so auf der Bühne des Lebens wie auf der von Holz und
Leinwand, daß der Ernste und Tüchtige gewöhnlich niemand so
sehr bewundert als den lächelnden Nichtstuer, den eleganten Ge¬
nießer, eben weil der so ganz anders ist, als er selbst. Die Provinz
in Österreich zählt so viel tüchtige und ernsthafte Elemente, und in
Wien weiß der kleine Mann, der Handwerker und Arbeiter, auch
recht gut, daß er sich rühren muß, um im Leben zurechtzukommen.
Aber, wenn sie im Volkstheater oder sonstwo Anatol, den liebens¬
würdigen Taugenichts, mit Bianca und Cora lieben sehen, klatschen
sie Beifall und haben ein Gefühl geheimer Bewunderung. Die
Bewunderungssphäre Anatols hat sich auch nach Norden verpflanzt,
seit sein Dichter Schnitzler ihn nach Berlin gebracht hat. Allzuweit hat
sie sich dort aber nicht ausgedehnt, so weit meine Kenntnis reicht.
Das Land der Pflicht und des kategorischen Imperativs ist nun
einmal keine Wirkungsstätte für Anatol.
Es ist bei alledem gar nicht zu leugnen, daß Anatol Stil hat.
In seiner Ausdrucksweise, in seiner Bewegung, wie in jeder Geste
bewahrt er sich jenen Sinn für die Form, der fast immer nur ein
4.9. Anatol - Zyklus
box 9/5
Erbteil alter Kulturen und guter Überlieferungen ist. Darum
ebenso hoch gewer
kennt er ja auch trotz seiner ewigen Liebschaften keine wirkliche Schauspielerkultus
Leidenschaft, denn die Leidenschaft fragt nichts nach der Form,
oder Sonnenthal
sie geht rücksichtslos über diese weg. Für Anatol wäre es
man den Appetit
„horrend“, etwa zum Girardi=Hut ein schwarzes Beinkleid zu
sagen. Anatol kön
tragen, und er würde bei der leidenschaftlichsten Liebeserklärung
haften Gaben auch
schleunigst aufstehen, wenn er an seinem Rocke oder an der Hose
diesem Frieden ei¬
einen Schmutzfleck entdeckte. Er hat eben diesen ausgeprägten
haben als früher,
Sinn fürs Außerliche, der eine Eigenschaft seiner Rasse ist. Ein
zunächst wieder ein
Nachteil? Darüber kann man verschieden urteilen. Der Sinn
geschickt zu umsch
für das Außerliche und die Form ist etwas Wesentliches, im
gerecht zu machen,
Verkehr sowohl der Menschen wie der Völker, bei den kleinen
war zu machen
Ereignissen des Gemütes wie bei den Dramen der Politik. Man
Hierin ist der öst
kommt viel weiter, wenn man gewisse Berechnungen unter sehr
wäre eine Aufgab
liebenswürdigen Formen versteckt; das höchste ist, diesen Formen
ebenso geschickt, w
den Anschein einer großen Natürlichkeit und Ungezwungenheit
wie gesagt, die No¬
zu geben. Dem Norddeutschen fällt dies außerordentlich schwer,
Völkern mit Erfolg
der Österreicher macht es spielend. In der Figur Anatols steckt
gewiß Erfolge hab
daher sicher Stil, so wie in einem Lannerschen Walzer Stil steckt,
der in der österrei
in einem Makartschen Gemälde oder in den großen Renaissance¬
bemerkenswerte Ro¬
palästen am Ring. Das alles ist nicht etwa ganz Österreich
eine Art Anatol
(ebensowenig wie Anatol ganz Jung=Wien vorstellt), aber, so
eifern. Und es wa
wie es ist, konnte es nur in Österreich entstehen, hat echt öster¬
nach so viel hübsch
reichischen Stil. Dies halb südliche Temperament eines begabten
Glut sind, noch
Volkes, mit einer großen Empfänglichkeit für alle Lebensreize,
„Exzellenz Anatol
mit einer hübschen Neigung, sich und andern gern etwas vor¬
zuspielen, dazu die Wiener Großstadtironie — dies alles nahm
der Dichter zusammen und schuf daraus die Figur des Anatol.
Alles in allem: man kann sehr viel, aber will man eigentlich
etwas? Neuerdings und besonders infolge der letzten Ereignisse
trifft man nun auch in Österreich wieder Leute, die viel wollen.
Man sieht und hört sie in den Kaffeehäusern, sie diskutieren in
den Gemeinderäten und in den Zeitungen; sie haben oft preußische
Ideale, auch wenn sie auf die Preußen jetzt und früher schimpften.
Sie lernen sogar etwas, was bisher dem deutschen Österreicher¬
tum so ziemlich gänzlich versagt war: Sachlichkeit.
Merkwürdig, wie wenig Leute man bisher in Österreich traf,
die sachlich sein konnten. Diese Eigenschaft „Sachlichkeit liegt
nicht im Programm der Rasse. Sprach man einmal mit einem
Österreicher über seine politischen Angelegenheiten, so kam eine
solche Fülle von Voreingenommenheiten, subjektiven Meinungen,
Hoß ohne Prüfung, Leidenschaft ohne Begründung heraus, daß
der Ausländer, und insbesondere der Reichsdeutsche wie vor einem
unentwirrbaren Knäuel stand. „Hoffnungslos —! Kein Mensch
kann da durchfinden —!“ Das war gewöhnlich die Antwort, die
einem in den letzten zwanzig Jahren jeder Reichsdeutsche gab,
dem man von innerer österreichischer Politik sprach. Das lag
weniger am Stoff als an der Art, wie die Österreicher ihn dar¬
stellten. Und man gewann die Überzeugung jenseits der schwarz¬
gelben Grenzen, daß die innern Angelegenheiten dieser Monarchie
einen Rattenkönig von Fragen darstellten. Dieser völlige Mangel
an Sachlichkeit mag vielleicht alte Erbschaft aus süddeutschem und
keltischem Blute sein; er ist sicher auch eine Folge der nun jahr¬
zehntelangen Sticheleien und Ränke der Völker untereinander,
des unablässigen Federkriegs, der endlosen Streitigkeiten, der
steten Vergiftung einer ewig neu aufgepeitschten öffentlichen
Meinung. In bezug auf Sachlichkeit hat der Österreicher von dem
kühlern Norddeutschen alles zu lernen. Sachlichkeit ist nicht nur
eine, es ist „die deutsche Eigenschaft. Weil er allein von allen
Völkern Europas imstande ist, sachlich zu denken, darum hat der
Deutsche bisher den Weltkrieg gewonnen und wird ihn weiter
gewinnen. Eine Sache sich genau ansehen, sie nach allen Seiten
erforschen, sie nach ihren guten und schädlichen Wirkungen be¬
trachten, dabei von jeder Beziehung zur eigenen Person und deren
Vorteil absehen — das ist weder englie, noch französisch noch
slawisch, das können nur Deutsche, und liegt eine der tiefsten
Wurzeln deutscher Macht. Und nach
in dieser Denkprozeß be¬
endet ist, sich die Mittel zu einer Aufgar zurechtlegen, sie dann mit
hartem Willen durchführen —, mit dieser Methode werden die
Staatsmänner beider Nationen künftig ihre Aufgaben lösen, und
ihre Völker werden auch mit ein bißchen weniger Kirchturms¬
interesse und mit weniger Subjektivität leben müssen. Anatol, wenn
er politisch wird, wird ein neues Leben anfangen müssen; an Spiel¬
raum wird es ihm in dem neuen Österreich nicht fehlen.
Eigentlich irrt man, wenn man ein neues Leben anfängt; man
fängt immer nur das alte an. Am Ende hat Anatol gar keine
Lust, sich zu wandeln? Das alte Leben war so hübsch und die
Luft im Vaterlande so weich, und Mizzi und Christine werden
ihm vielleicht Treue bewahrt haben oder etwas, was man un¬
gefähr so nennen kann. Und wenn nicht — nun, dann richtet man
sich eben anders ein, man findet auch eine andere Mizzi und eine
andere Christine. Aber werden all diese schönen Dinge nach
diesem Kriege und wenn erst der Frieden wieder da ist, noch