II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 663

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4.9. Anatol - Zyklus
Der zu behandelnde Stoff gibt wie kein zweiter Ge¬
legenheit zu politischen Kannegießereien, zu volltönenden,
Was war Ihr erstes Erlebnis in London, Her¬
Anatole
„Erlebnis kann man es nicht nennen — komische
Episode, wenn Sie wollen. Am ersten Abend gingen Max
und ich — Sie wissen, Max ist mit mir gekommen
zu Romands speisen, weil man uns gesagt hatte, daß die
Lebewelt und die Jeunesse dorée dort verkehren. Ein
tadelloser, glattrasierter Kellner wies uns einen der kleinen
Tische an und wartete auf unsere Ordre. Die Speisekarte
verursachte uns jedoch einige Schwierigkeiten und wir
rieten hin und her, was wir bestellen sollten. Was ist
Welsh Rarebit? Was ist Kidney Pie? Was ist ein
Stewed Ptarmigan? Max und ich zerbrachen uns die
Köpfe, während der Kellner unbeweglich dabeistand und
geduldig wartete. Nachdem er vielleicht drei Minuten
unserem, natürlich Deutsch geführten Disput zugehört
hatte, beugte er sich plötzlich ein wenig herab und sagte
ganz ruhig in einem nur allzu bekannten Idiom:
„Vielleicht die Herren ein Schnitzerl gefällig? Oder ein
gebratenes Huhn mit Salat?" Max und ich sahen
einander verblüfft an. Also deshalb kommt man nach
London, um im ersten Restaurant in unverfälschtem
Wienerisch angesprochen zu werden! „Nein,“ rief ich, als
ich mich vom ersten Schrecken erholt hatte, „in einem
fremden Land soll man auch die Speisen des Landes
essen." — „Ja," sagte Max, „das soll man. Bringen Sie
mir ein Schnitzel...
„Nach dem Diner
fuhr Anatol fort — „wollten
wir eine richtige englische Operette sehen, weil man ja in
Wien die Originalsache doch niemals zu Gesicht bekommt.
Ich fragte also den Portier des Restaurants, wo man
hingehen könne, und er sagte: „Gehen Sie nur gleich
nebenan ins Vaudeville, da spielen sie eine lustige
Operette: „The girl in the train. Wer beschreibt aber
mein Entsetzen, als ich, kaum daß wir uns im Parkett
niedergelassen hatten, die Melodien der „Geschiedenen
Frau erkannte. Max allerdings behauptete, es sei keine
Spur von der „Geschiedenen Frau“ gewesen...
„In einer fremden Stadt komme ich mir vorerst
immer wie ein kleines Kind vor" sagte Anatol nach einer
leinen Weile.
den Sprüchengebra.
Ein schwerer Fehler wäre es meines Erachtens, wenn
einer Revision zu
Graf Thun ein neues Arbeitsprogramm zur sukzessiven
freier von deutscher
„Die ersten Wochen sind Sie in einem vornehmen
„Nein," erwide
Variété aufgetreten?" fragte der Interviewer.
nisse erlauben mit
„Ja,“ erwiderte Anatol, „neben der Chopin- und
„Also, das ist
Grieg=Tänzerin Maud Allan und den entzückenden
ist, sich in einer Ei
Palace Girls habe ich mich ganz wohl gefühlt.
Melba ist für den
Die Palace Girls sind wirklich entzückend, ich fühlte
Girls für das Au¬
sofort, wie ich an den Wienerinnen zum Verräter wurde.
fort: „Bald nach
Sie sind alle ganz weiß gekleidet, in kurzen Röckchen,
gedreht, und die
nur mit zarten, unterirdisch schwarz auftauchenden Kon¬ time." Kein Men
Stimmen wurden
trastierungen; auch die ganze Szene ist weiß und zartest
Hand und sie drück
schwarz umschlungen. Wo findet man noch ein Dutzend
Haus begleiten?
solch schlanker Püppchen in weißen Lockenperücken, alle
nicht allein nach
gleich gewachsen, alle zu einem Glöckchenrhythmus hüpfend
im Wagen war M.
und tanzend — die Celesta als Begleitung ... Ich habe
erstes Abenteuer au
eines dieser Palace Girls zum Souper eingeladen. Ich will
wirbelten. Wie
Ihnen das Erlebnis erzählen; es scheint mir typisch, lehr¬
schildert: kühl, steif,
reich und bezeichnend. Dieses eine Mädchen — Myrtle
Pah! Endlich hielt
hieß sie, denken Sie: Myrthe — hatte in einer Weise mit
a pet," flüsterte M
mir kokettiert, daß ich ohneweiters die Frage an sie stellte,
selbstverständlich in¬
ob sie nach der Vorstellung mit mir soupieren wolle. Ihre
erwartete. Myrtle w
großen Augen leuchteten; aus der Gegend des saphirblau
nicht möglich," sag
hingehauchten Streifens unter den Augen warf sie mir
wohne hier bei mei
einen Messalinen-Engelsblick zu und sagte: „Ja. Ich
Oh, do be a gente
machte sie aufmerksam, daß ich ein Fre sei und daher
stoßen und mußte
sie fragen müsse, ob es hier so etwas wie Sacher gäbe,
verstand meine Ver¬
wo man ungestört soupieren könne. „Gewiß," erwiderte sie,
leman; sie küßte
und nannte mir zwei Restaurants. „Aber dort werden wir
Haustor und versch¬
doch nicht hingehen," sagte sie schmollend; „warum sollen
Der Interview
wir uns verstecken? Gehen wir doch ins Savoy; dort
Girls, die Ladies
sieht man Menschen und wird gesehen, dort ist's viel
Anatol lachten
amüsanter." — Nun, ich wollte ihr den Spaß nicht ver¬
„Sie haben
derben und so fuhren wir ins Savoy. „Ich bin nicht
Anatol lachte.
hungrig,“ sagte Myrtle und bestellte nur Schinken für sich.
Ich habe bald
(Unwillkürlich mußte ich an Mimi denken — was
hier in den besten
immer beim Sacher zu bestellen pflegte!) Als jedoch der
wenn man sich wir
Champagner kam, nahm das unerfahrene Kind ihr Glas
und schüttete den Champagner über ihren Schinken. „Ver¬
ganz so grau, wie
suchen Sie es nur!" sagte sie, als sie mein erstauntes
daran, so merkt
Gesicht sah. Ich versuchte, und muß gestehen, es war
(Anatol sprach diese
deliziös. Zum Nachtisch bestellte Myrtle „Peach Melba“. —
unübersetzbares Wo¬
Sie kennen diesen Haschichtraum einer genialen kulinari¬
habe gefunden, daß
schen Imagination?" fragte Anatol seinen aufhorchenden lich auch der intelle¬
Interviewer.
Ballettänzerinnen un¬