II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 666

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4.9. Anatol - Zyklus
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Theater, Kunst und Musik.
Deutsches Volkstheater.

Am letzten Samstag versuchte mans im Deutschen Volks¬
theater mit einer Neuinszenierung der Komödie „Die Zwillinge“,
die Tristan Bernard den Menaechmen des Plautus nachgedichtet
hat. Allein der Liebe Mühl war umsonst, auch die Wiederholung ver¬
mochte dem Stücke keinen rechten Erfolg zu bringen; ein paar
Kürzungen schadeten mehr als sie nützten. Das freie Maskenspiel
läßt sich nun einmal nicht in die engumgrenzte Wirklichkeit eines
bestimmten Ortes, einer bestimmten Zeit hineinzwängen. Seine
Realistik schwebt wolkenhoch über allen pedantischen Wahr¬
scheinlichkeitsbedenken; Bernard sucht dem Publikum einzureden,
daß alles mit natürlichen Dingen zugehe, und bewirkt damit nur,
daß man den ganzen Spaß nicht glaubt. Er zeigt eine unleugbare
Geschicklichkeit im Einrichten, aber diese Geschicklichkeit ist eine
Sünde wider den Geist, und davon gibt es, wenn ich nicht irre,
keine Absolution. — Herr Homma spielte diesmal die beiden
Zwillinge; das Kunststück war nicht allzuschwer, und es gelang.
Herr Kirschner stattete die Figur des ewig beduselten Koches
mit ergötzlichster Komik aus, Herr Russek war ein prächtiger
Schmarotzer und Herr Amon verstand es, in einer langweiligen
Rolle viel Lustigkeit zu erwecken.
Den Schluß des Abends bildete ein frecher Einakter von
Rudolf Presber: „Das Versöhnungsfest. Das Stück
fand bei der zünftigen Kritik wenig Gnade, man kann also schon
daraus schließen, daß es gar nicht so übel sein muß. Die Herren
sprachen von einer „Anatolsituation", die der Berliner Autor ins
Derbere transponiert habe; sie seufzen, daß bei der Umwandlung
die delikate Poesie des Vorbildes verloren gegangen, der elegische
Zug, der den Anatoltypus so bestrickend mache, gröblich verwischt
worden sei; ihr gebildeter Geschmack vermißt den psychologischen
Tiefblick. Du grundgütiger Heiland, ahnen sie denn wirklich nicht,
daß sie damit gerade den größten Vorzug der Presberschen Ko¬
mödie nennen? Die derbzugreifende Drastik, die gänzlich bedenken¬
lose Ausgelassenheit, womit hier das alte Thema vom geprellten
Ehemann behandelt wird, der Verzicht darauf, die groteske Komik
der Situation durch „intime" Seelenmalerei interessant zu machen,
sind das einzig Versöhnliche an der Sache und darum in diesem
Falle auch das dichterisch Richtige. Schallendes Gelächter kann
gar wohl erlaubt sein, wo ein verstehendes Lächeln nur den
Mangel an feinerem Empfinden verraten müßte. Übrigens, was
heißt das „Anatolsituation"? Als ob es derartige Situationen
im Leben und in der Literatur vor Anatol noch gar nie gegeben
hätte. Das chambre séparée machts doch wahrlich nicht aus,
obwohl ich verstehe, daß es Assoziationen weckt. In der Tat er¬
innert auch nichts, durchaus nichts, wenigstens nichts Wesentliches
in diesen lustigen Szenen an Anatol. Wenn man schon Verwandt¬