II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 705

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4.9. Anatol - Zyklus
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15.02.1935

Theater hinter Stacheldraht.
Ein Vortrag des Burgschauspiele Karsten.
Im großen Uraniasaal hielt am Montag Burgschauspieler
Julius Karsten inen Vortrag: „Theater hinter Stachel¬
draht.
Zweieinhalb Millionen Soldaten der Mittelmächte waren
während des Weltkrieges in dem riesigen Gebiet des europäi¬
schen und asiatischen Rußland durchschnittlich vier bis sechs
Jahre in 232 Lagern kriegsgefangen und dort zumeist einer
schrankenlosen Willkür überantwortet. Es war daher kein
Wunder, daß bald der Wille und die Kraft erwuchsen, die von
der Umwelt hermetisch abgeschlossene, mit Stacheldraht um¬
zäunte Gefangenschaft, auch mit den Waffen des Geistes, dem
Rüstzeug überlegener Kultur, zu bekämpfen. Gegen das
drohende Gespenst der „Stacheldrahtkrankheit" als Folge der
Einsamkeit, des Leides, der Ungewißheit über die Angehörigen,
der eigenen Zukunft sowie Dauer der Gefangenschaft gab es nur
ein Mittel, Arbeit und Zerstreuung. So entstanden bald Kurse,
Vorträge, verschiedene musikalische Veranstaltungen und schlie߬
lich das Kriegsgefangenentheater. Und gerade letzteres war ganz
besonders geeignet, auf die seelische Wandlung der Kriegs¬
gefangenen einzuwirken, denn es lenkte die Empfindungen auf
einen neuen Gegenstand und damit die Aufmerksamkeit der
schwer bedrückten, oft einander überdrüssigen Kameraden auf
eine neue, fremde, auf eine dramatische Welt.
Karsten erwähnte als persönliches Erlebnis für viele das
Offizierstheater von Nowo-Nikolajewsk, das mit Schnitzlers
Einakterzyklus „Lebendige Stunden eröffnet werden sollte.
Da fehlte ihm für den zweiten Einakter „Die letzten Masken
der passende Darsteller des lungenkranken Schauspielers
Florian Jackwerth. Nach langem Suchen fand Karsten endlich in
einem benachbarten Lager das, was er brauchte. Eine dürre Ge¬
stalt mit bleichem, abgezehrtem Gesicht, unrasiert, die großen,
glühenden Augen beschattet von einem wirren, schwarzen Haar¬
schopf, war sein Mann. Obwohl durch die Gefangenschaft schwer
erkrankt, wurde dieser Kamerad später einer der besten Schau¬
spieler. Aus dem tagelangen Dahinbrüten wandelte er sich nach
seinen ersten Erfolgen zu einem der eifrigsten Mitarbeiter auf
allen Gebieten. Aber auch die andern Darsteller wußten sich aus
Neid und Kleinlichkeit, aus Streit und Mißtrauen emporzu¬
ringen, und es bleibt bewunderungswürdig, daß sich die mensch¬
liche Seele trotzdem ausschwingen konnte, zu einer Höhe der
Kunst, wie gerade die Kriegsgefangenentheater sie erreicht
hatten. Von diesem Standpunkt aus gesehen, war das „Theater
hinter Stacheldraht“ eine segensreiche Wohltat zu nennen, da
es manchem Unglücklichen, der dem sicheren Elend und Siechtum
verfallen wäre, neues Leben
allen geb.