II, Theaterstücke 4, (Anatol, 5), Abschiedssouper, Seite 68

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wegzuziehen. Die Schwächen sind hier
deutlich vorgeführt, zu welchen auch die
geringfügige Handlung gehört, aber
das ist ja doch ein Vorzug, nicht ein
Fehler nach dem dramatischen Codex
der Moderne. Die Vorzüge sind die
treffliche Schilderung des Miliens, die
Lebenswahrheit der Menschen und Vor¬
kommnisse. Viele aus dem Publicum,
welche sich zu den besseren oder höheren
Kreisen der Gesellschaft zählen, oder sich
wenigstens einbilden, sich dazu zählen zu
können, zeigten sich indigniert, das
Leben dieses „Lumpengesindel“
vor ihren Augen aufgerollt zu sehen
und rümpften die Nase. Es waren
dieselben, die sich nachher bei der nackten
Gemeinheit, „Das Abschiedssouper“ des
Herrn Arthur Schnitzler, vortrefflich
unterhielten und übermäßig lachten. Aber
natürlich! die Gemeinheit präsentiert sich
da im Frack mit tiefausgeschnittener Weste,
schlürft Austern und begießt sie mit
Chablis. Das ist Gemeinheit, die sich
nobel präsentiert, da fühlt man keine
Indignation. Können feingebildete Men¬
schen von wahrhafter Noblesse durch
Gemeinheiten, die in einem eleganten
Chamhre séparée spielen, sich indigniert
fühlen? Gewiss nicht. Aber Geist und
vertretene Absätze, freie, antiphiliströse
i
done!
Grundsätze mit Spickaal!
So können wir auch dem Vorwurfe
nicht beistimmen, den die Kritik dem
Autor, Ernst v. Wolzogen, macht, dass
er hart neben der Tragik drastischen
Humor stellt, Ernst und Scherz durch¬
einander mischt. Diese Herren Kritiker, die ihn deshalb
verurtheilen, das sind die alten Zünftler und Zöpfler,
die noch auf den alten dramaturgischen Codex schwören,
dass im Schauspiel alle seriös, im Lustspiel alle gemäßigt
heiter und in der Posse alle pudelnärrisch sein müssen.
Alle Mitglieder charakterisierten scharf und bemühten sich,
ihr Bestes zu geben. Herr v. Winterstein jedoch arbeitete
den Dr. Kern nicht aus dem Vollen heraus, er blieb uns
noch etwas schuldig. Herr Nissen litt als Polke unter
dem Dualismus dieses Charakters; dieser Polke in den
beiden ersten und im dritten Act kann nicht ein und der¬
selbe Mensch sein. Und warum die Bismarck=Maske? Wir
fanden sie ebenso unpassend als geschmacklos. Eine aus¬
gezeichnete Sprecherin ist Annie Trenner. Sie war so
wirksam, als es ihr diese sentimentale, unverständliche Figur
möglich machte. Sehr gut, wenn auch stark ontrierend,
war Louise Wilke als Schwumbe. Eine vorzügliche Leistung
war die fein nuancierte Episode des Commercienrathes
Dessoir durch Herrn Reinhardt, wie die des Wilhelm durch
Herrn Kayßler. Der moralisch verlotterte Plattner des
Herrn Martin dünkte uns zu unfrei, zu weichmüthig und
subtil. Die Herren Biensfeld und Ballentin thaten eher zuviel
als zu wenig. Die dramatisierte Zeichnung aus den „Cari¬
caturen“, dem „Pschütt", „Floh“ oner Bombe“— wir wissen
nicht woher Herr Schnitzler sich den Ausschnitt nahm — mit
dem „Wiener“ Anatol ist in der Einleitung etwas lang¬
weilig, dann nichtssagend, aber die ausgezeichnete Interpre¬
tation der Gisela Schneider als Annie sicherte den lachendsten
Erfolg. Herr Nissen als Anatol war ein zu schwerfälliger Lebe¬
mann, um den verfluchten Kerl in ihm glaubhaft zu machen.
Der zweite Abend brachte uns „Geographie und Liebe“
Lustspiel in drei Aufzügen von Björnstjerne Björnson.
Wir müssen dieses sonderbare Machwerk des berühmten
norwegischen Dichters als eine traurige Verirrung be¬
zeichnen, die geradezu ein Attentat auf die Geduld des
Publicums genannt werden muss. Wir fanden durch die
Aufführung dieses Stückes, das zwischen Blödsinn und
Langweile hin= und herschwankt, abermals die alte Wahr¬
heit bestätigt, dass hervorragende Schauspieler plötzlich
aller Beurtheilung ermangeln, sobald ihnen ein derartiges
Machwerk eine Bombenrolle bietet, wo ihnen die Möglich¬
keit geboten ist, vom Anfang bis zum Ende des Stückes
die Bühne nicht mehr zu verlassen. Hat nun gar der
Autor einen berühmten Namen, dann werden selbst die
Sehendsten blind. Damit Herr Nissen den ganzen Abend
nahezu ein Soloschauspiel aufführen konnte, in welchem
er all seine Qualitäten zu entwickeln Gelegenheit
hat, das war die alleinige Ursache, dass wir mehr
als zwei Stunden zwischen Blödsinn und Langweile
hin= und hergeschaukelt wurden. Herr Nissen spielte
den Professor Tygesen temperament= und wirkungsvoll.
Neben ihm kamen nur Herr Ziener als Professor Tur¬
man, der natürlich wieder sächselte, wenn auch sehr discret,
Gisela Schneider als Ane und mit einigem Vorbehalte
Marie Elsinger als Helga zur Geltung. Louise Wilke war
als Frau Tygesen meist unverständlich. Noch ein zweiter
solcher Abend, und das Publicum würde dem Musentempel
in der Wallgasse scheu ausweichen. Höchst störend
wirkte abermals das Zuspätkommen so vieler Zuschauer,
das bis zum Schlusse des ersten Actes andauerte. Ist das
Stehenbleiben in den Zugängen nicht gestattet, so lasse
man einfach die zu spät Kommenden überhaupt nicht vor
dem Actschlusse eintreten, aber die jetzt geübte Geflogen=
heit ist einfach ein Scandal und eine Rücksichtslosigkeit
gegenüber den Zuschauern, die rechtzeitig gekommen sind.
4.5. Abschiedssouper
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Theater.
Raimund=Theater. Sonntag den 2. d. begann das
Ensemble=Gastspiel von Mitgliedern des Berliner Deutschen
Theaters. Wenn auch Herr Kainz und Fräulein Else Leh¬
mann, die anfangs auch in Aussicht gestellt hatten, bei diesem
Gastspiel mitzuwirken, schließlich absagten, so war noch immer zu
rwarten, daß es viel Interessantes bringen werde. In erster Linie
in Bezug auf die Stücke, die versprochen wurden, durchwegs
Stücke, die wir in Wien gar nie oder nur selten zu sehen be¬
ommen haben. Sodann aber auch durch die Vorführung eines
Schauspieler=Ensembles, das einen ausgezeichneten Ruf hat und
das auch noch neben Kainz und Else Lehmann über ganz be¬
deutende schauspielerische Kräfte verfügt. Sonntag den 2. d. und
Montag den 3. d. gelangten zur Aufführung: „Das Lumpen¬
gesindel", Tragikomödie in drei Aufzügen von Ernst v. Wol¬
zogen, und „Abschiedssouper“, Lustspiel in einem Akt
von Arthur Schnitzler. Das „Abschiedssouper“ haben
wir in Wien schon einmal gesehen gelegentlich des Gastspiels
des Fräuleins Adele Sandrock am Raimund=Theater. Dagegen
ist „Das Lumpengesindel“ für Wien neu. Ernst v. Wolzogen gehört
zu den frischesten Taleuten des heutigen literarischen Deutschland¬
und „Das Lumpengesindel“ steht künstlerisch ungleich höher als
„Die Kinder der Exzellenz“, die wir ja in Wien wiederholt
gesehen haben. „Das Lumpengesindel“ ist wesentlich ein Milieu¬
stück, in dem der Dichter es auch nicht verschmäht, bisweilen
Für
äußerst drastische, derbe, ja krasse Mittel anzuwenden. Aber es jlusive
erhebt sich über die reinen Schilderungen verfaulter Menschen orto.
hlbar
und Zustände, die uns in dem modernen Milieustück so häufig Voraus.
„ 1 geboten werden, durch die Vorführung krästiger und wahrheits¬
getreuer Gegensätze. Wir bewegen uns nicht ausschließlich in einem; ist das
4b0 Sumpfe, wir erfreuen uns auch trockenen und gesunden Bodens, iht es den
Abo Jene deutsche Bohème, die E. v. Wolzogen schildern will, birgt K.¬
so viel Gesundheit, Treuherzigkeit und Rechtschaffenheit in sich,
daß man sie nur mit wohlwollender Ironie „Lumpen¬
gesindel“ nennen kann. Immerhin war es ein Wagestück,
gerade das Gastspiel mit einem Stück zu reginnen, das durch
das spezifische Berliner Kolorit und besonders durch den aus¬
gesprochenen Berliner Dialekt die Wiener sehr fremdartig an¬
muthen mußte. Dazu kommt, daß der im Stück vorkommende
Wiener höchst unsympathisch geschildert ist und nicht gut gespielt
wurde. Am belehrendsten für uns in Wien ist das Gastspiel da¬
durch, daß wir sehen, daß ein gut geleitetes Theater auch ohne
das Vorwalten von Stars Tüchtiges zu leisten im Stande ist. Die
Aufnahme des ersten Stückes war am Sonntag nicht ohne
Widerspruch, am Montag war der Beifall stark und
einmüthig. Im „Abschiedssouper“ legt Fräulein Gisela
Schneider die Rolle furchtbar grell an. Aber man
muß sagen, sobald man sich mit dieser gewiß berechtigten
Auffassung vertraut gemacht hat, muß man dem Spiele der
genannten Schauspielerin das rückhaltloseste Lob zuerkennen. Auch
die Damen Annie Trenner, Luise Wilke, Paula Eberty,
sowie die Herren v. Winterstein, Kayßler, Nissen und
Reinhardt verdienen lobende Erwähnung. Soviel steht heute
schon fest, daß man auf den weiteren Verlauf des Gastspieles
gespannt sein darf. Heute findet die erste Vorstellung von
Björnson's „Geographie und Liebe“ statt, das in Wien ganz
unbekannt ist. Am Mittwoch findet die erste Aufführung der
„Gespenster“ statt.
e. p.