II, Theaterstücke 4, (Anatol, 4), Episode, Seite 3

Entwicklung zum Höheren vollzieht sich stets unter
schweren Kämpfen, im Widerstand gegen das All¬
gemeine, und der nach oben steigende wird zunächst
einmal mit Steinen beworfen. Die Entwicklung nach
unten hingegen geschieht stets unter allgemeiner
Zustimmung und Begeisterung, und die neue
Jdee wird, tamm daß sie auftaucht, für vor¬
trefflich erklärt. Die Gedanken vom „litterarischen
Variêté-Theater“ haben, als sie vor ein paar Jahren
zum erstenmal laut wurden, sofort überall gezündet
und jeder fand sie groß, schön und wahrhaft be¬
freiend; doch ich will damit nichts gesagt haben.
Gewiß wird jede Regel ihre Ausnahme besitzen.
Nun haben wir die erste Aufführung des „bunten
Theaters“ auf der „Sezessionsbühne“ hinter uns,
und das Ganze wirkte so, als ob nan eine hübsche,
leichte und gefällige Humoreske Ernst von
Wolzogens läse. Wolzogen hat die neue
Bühne geschaffen und alles dort oben war
von seinem Geiste durchtränkt. Wie ein guter
Zeitungsredakteur seine Zeitung, an der hundert mit¬
arbeiten, doch zu Ausdruck seiner Persönlichkeit
macht, so tauchte am Freitag überall der Kopf und
die Seele des Leiters und Unternehmers auf.
Es ist eine durchaus angenehme und gemütliche
gesellschaftliche Unterhaltung, die uns da geboten
wurde. Ein litterarischer Salon, ins Theater ver
pflanzt! Die Leutchen, die dort zusammenkommen,
zerbrechen sich gewiß nicht auzusehr den Kopf. Sie
wollen sich geistig um Gotteswillen nicht anstreugen.
Sie plaudern von der Kunst, wie man vom Lawn¬
Tennisspiel, von neuen Kleidern und vom Theater
plandert.
Man hat uns so viel von der Bohéme=Kunst er¬
zählt, die hier öffentliche Pflege finden soll. Nun,
davon war allerdings nichts zu spüren. Alles ging
bürgerlich=anständig und ehrbar zu, und der Zigeuner
wird gewiß nur zugelassen, wenn er einen neuen
und frischen Kragen umgebunden hat.
Die
Polizei und Zensur braucht sich wirklich nicht
zu fürchten. Gutgesellen wie Otto Julius Bierbaum
dichten keine Bohèrne=Chansons auf Ravachol — und
Veranger=Lieder nur, wenn es keine Bourbonen
mehr giebt. Die politischen Lieder unseres Über¬
brettl werden harmlos sein wie die Kouplets einer
Berliner Posse. Man spricht in diesen Kre#sen nur
von Theater, von Litteratur und Kunst, wie der
Börsenmann von der Börse, der Kolonialwaren¬
händler von Kolonialwaren redet.
Es war alles angenehmste, gefälligste und
hübsche Salonmusik und Salonpoesie, die uns
am Freitag geboten wurde, Salonpoesie mit
einem leisen Zug ins Kokotte und mit
einer starken Neigung zum Koketten. Der große
Schlager war ein zierliches Duett, zu dem Otto
Julius Bierbaum den leichten Text und
Oskar Strauß eine prickelnde Musik geschrieben
hat, die sehr graziös von Olga Destrée und
Robert Koppel getanzt und gesungen wurde.
Das Ganze wirkte wie das glatteste und niedlichste
Genrebildchen mit der Unterschrift: „Aus den Tagen
der Biedermannszeit" oder „Als der Großvater die
Großmutternah n“. Unsere Lyriker werdentriumphieren.
Sie haben die Dramatiter diesmal auf ihrem
eigensten Gebiete geschlagen. Das lyrische Gedicht,
in Musik gesetzt, schauspielerisch und im Kostüm dar¬
„ataks.
Zoisode
bos 7/7
4.4 —
Telefon 12801.
Alex. Weigl's Unternehmen für Zeitungs-Ausschnitte
Ausschaltt
JOSSERVEN Nr. 52
I. österr. behördl. conc. Bureau für Zeitungsberichte u. Personalnachrichten
Wien, IX, Türkenstrasse 17.
Filiale in Budapest: „Figyelö“
Vertretungen in Berlin, Chicago, Genf, London, Newyork, Paris, Rom, Stockholm.
Ausschnitt aus:
Das Hinisen
Bailia
vora 7½0
G
A
%
Das Ueber rettl.
Es war am Abend des 18. Januar 1901. Da spielt.
man im „Deutschen" Theater das fälschlich als Offizierstragödie
bezeichnete Drama von einem verlotterten Offizierkorps, im
Lessing=Theater „Flachsmann als Erzieher“, im Residenz=Theater
„Frauen von heute“ im Neuen Theater „Die Liebesprobe“ und
auf den anderen Bühnen die töglich abgewickelten Repertoire¬
stücke. Mit Ausnahme des Berliner= und des
Luisen=Theaters hatte keine Bühne den Drang
oder die Verpflichtung in sich gefühlt, die szenische
Leistung mit dem draußen pulsirenden Leben in Einklang zu
setzen. Was kümmert die Herren Direktoren der Festtag
Preußens, was scheert sie historische Erwägung und Ver¬
Fü pflichtung! Ist doch mit dem Patriotismus kein Geschäft zu
helusive
machen, es sei denn in Form glänzender und raffinirf Porto.
hergestellter Waarenhausfront=Illuminationen, die immer=Jahlbar
hin als Reklame dienen! — An diesem denkwürdigen Voraus.
v. Wolzogen ein Gastspiel
Abend eröffnete H
seines „Ueberbrettl's“ in den Räumen des Secessions=e ist das
Abol theaters vor einem Publikum, das gekommen war, prickelndeht es den
Abor Genüsse mit schmatzendem Behagen aufzuschlürfen. So ein „Ueber=).
brettl“ das muß ein wundersam Ding sein, hatten sich die
Meisten gedacht. Die „Roulotte“ mit ihren melancholischen und atend die
Inha
hin lustigen, fein abgetönten Bildern lebte noch frisch in orgen¬
Zeitung“)
wodn der Erinnerung, und da erwartete man ein Plus uiträ: se Leben
des Nicht nur hald, sondern dreiviertel dekolletirte Damen, (heilungen
werd heikelste Sitnationen, eindeutigsten Dialog, künstlerisch ver¬
Andere kamen mit ernsteren Ge¬
brämte Frivolitäten.
Spiel flüchtiger
danken. Sie erhofften vielleicht im leichten
Szenen das Samenkorn echter Kunst zu finden, sie fühlten sich
abgestoßen von dem leeren Versgeklingel der Huldigungsdramen
gund dem Erkühnen mäßiger Köpfe, den Werdegang der Geschichte
in Tendenzstücke zu pressen. Dann waren Jene zur Secessions¬
bühne geeilt, die in neuer hochgebundener Kravatte auch äußerlich
die Jüngsten dokumentiren wollen und denen der Goethe'sche
Begrifs der Klarheit identisch mit „Oberflächlichkeit“,d#
lallende Stammeln blödsinniger Nepoten gleichbedeutend mit
„Tiefe“ gilt. Diese bunte Menge saß vor dem dürftigen Vor¬
hang, der sich alsbald theilte und die Wunder des Ueberbrettls
enthüllte. Wir haben nur Einiges davon gesehen, diese Proben
genügten uns.
Olga Wohlbrück sprach ein Gedicht von Salus,
den wir sonst sehr schätzen, und der auch in dem vorgetragenen
einen hübschen Gedanken, wenn
Stücklein „Mütter“
auch nicht sehr formschön zum Ausdruck gebracht
hat. Olga Wohlbrück trug ein gelbes Kostüm mit
einer Riesentulpe auf der Brust; sie litt ersichtlich unter einem
Schnupfen und sprach demgemäß. Vielleicht wollte sie den
kranken Zustand der beiden „Mütter“ charakterisiren, die soeben
Menschenkindern das Leben gegeben haben?!! So hofften wir.
Dann folgte ein Eislersches Gedicht „Gänschen“; aber auch
das Gänschen war verschnupft und überdies in der Darstellung
Olga Wohlbrücks eine ziemlich ausgewachsene Gaus. Hierauf
„Adele“! (Bozina Bradsky). Eine blonde, schlanke Figur
im anliegendem Kleide, tief ausgeschnitten bis über die Hälfte des
Rückens, unten ein Gewirr von Stoffen — ich bin kein Damen¬