II, Theaterstücke 4, (Anatol, 1), Die Frage an das Schicksal, Seite 28

box 7/4
das Schicksal
Fra
an
4.1. Die
a. I. G K — enenenenenenenentenenenen
Wie ich soeben lese, hat Freiherr von Heereman im
Reichstag das erschütternde Wort ausgesprochen: Die
Kunst soll etwas Schönes darstellen.
Es scheint nach¬
gerade, daß unsere Volksvertreter die Gesammterziehung
des deutschen Volkes in Erbpacht nehmen wollen.
Nachdem neulich Herr Paasche den Propheten gespielt
und uns über das Wesen und die Aufgaben der
wahren Religion den Text gelesen, weiterhin Herr
Lieber lustig die Pritsche gegen die moderne Kunst ge¬
schwungen hat, geht nunmehr Herr von Heereman
daran,
Aesthetik zu reformiren,
sie
den Anschauungen von anno dazumal zurück zu
reformiren. Vielleicht übernehmen die Herren
ihren übrigen Thätigkeiten auch noch die
ständige Kunst=, Musik= und Theaterkritik. So
lange das aber noch nicht geschehen ist, wollen wir die
Erscheinungen der Kunst etwas weitherziger auffassen,
als Herr von Heereman, sintemalen im Laufe der
letzten fünf Jahrtausende noch kein Philosoph, geschweige
ein Reichstagsabgeordneter eine genügende Erklärung
von dem was schön ist zum Besten gegeben hat. Ein
Maler, der einen Kretin vollendet wiedergiebt, kann
mit dem Gemälde ein giltiges Zeugniß seines Könnens
liefern; aber „schön“ ist der Kretin auch im Bilde nicht;
die Behauptung, daß das Widrige durch die künstlerische
Darstellung zu etwas „Schönem“ werden könne, heißt
mit der deutschen Sprache Unfug treiben. Die Kunst
zu gestalten, Empfindungen, Anschauungen, Per¬
Für
Inclusive
0e sönlichkeiten so lebendig und deutlich zu gestalten, j Porto.
Stimmung, die sich in der Seele des Zahlbar
200 baß
iim Voraus
500 Künstlers regt, das Bild, das in seiner Vorstellung lebt,
1000 von dem Genießenden möglichst klar und bestimmt de ist das
nachempfunden und nachgeschaut werden kann. Ob beig eht es den
Abonn
dem Gestalten eiwas Liebliches oder Grausiges, Er= fdern.
Abonn
habenes oder Gemeines, ein Ideal oder eine Fratze
herauskommt, das hängt von ganz andren Faktoren,
als von der Kunst, dem Können ab, nämlich von dem #
allgemeinen Kulturstand einer Zeit und der menschlichen
Eigenart des Schaffenten. Wenn die Kunst den Zweck
hätte, nicht Andres, als das Schöne darzustellen, dann hätten
Shakespeare, Dante, Juvenal und Rabelais zeitweilig stark
in Anti=Kunst gemacht, und —— Otto Erich Hartleben,
der Verfasser der Komödie „Die Erziehung zur
Ehe“ wäre geradezu ein Prophet, ein Rafael der
Anti=Kunst. Mögen die Schönheitsästhetiker sich noch
so sehr in Sophismen, in Dialektik winden, um den,
Begriff „Schön“ als Maßstab des Künstlerischen fest¬
zuhalten, das werden sie denn doch dem gesunden
Menschenverstande nicht beibringen, daß die Heldin
jener Komödie, die verwittwete Bankdirektor Auguste
Günther „etwas Schönes“ sei. Und doch
sie künstlerisch eine vorzügliche Schöpfung. Ein
Musterexemplar jener
Gesellschaftskreise, die in
äußerlicher Anständigkeit Bewundernswerthes leisten,
innerlich aber aufs Tiefste angefault sind, deren „bürger¬
liche Moral“ im Sinne höheren Menschenthums nackte
Unmoral ist. Frau Auguste findet es entsetzlich, daß
ihre Tochter das Wort „Geliebte“ auszusprechen wagt,
sie hält jedes Mittel für recht, ihren Jungen vor einer
ernsthaften Neigung zu bewahren, sobald diese Neigung
auf das „Nichtstandesgemäße“ verfällt. Aber liebe¬
voll gestattet sie,
daß der Sohn
sich
leichtsinnigen Abenteuern austobt und auf diese
Weise für eine Geldheirath reif wird. Das
Stück, eine sehr bittere Satire, wurde bereits vor
einiger Zeit von der Neuen Freien Volksbühne auf¬
geführt, ich habe es damals eingehender besprochen und
auch die Mängel der Arbeit hervorgehoben. Die
Scherze sind öfters mehr pikant und um der Theater¬
wirkung willen herangeholt, als in den Charakteren be¬
gründet; die einzelnen Szenen nur sehr lose verknüpft.
Diese Mängel werden aber durch die sichere Zeichnung
der Hauptgestalten und die Lebenswahrheit der ent¬
scheidenden Vorgänge durchaus wettgemacht. Trotzdem
hat das Stück erst jetzt in der Vorführung des
Lessing = Theaters einen Erfolg errungen,
der ihm ein längeres Bühnenleben verspricht. Nicht
allen, aber doch den meisten Darstellern gelang es,
ihre Rollen aufs Wirksamste zur Geltung zu bringen.
Mit vollendeter Gewandtheit gab Lore Jona die
moralische Mutter, die kluge Herrscherin des Hauses,