Maerchen
Das
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J. Dus nderene..
dem Volksverächter Coriolan entgegenstehen, jedes Tages schöner
Zufall kann uns einen Matkowsky bescheeren, einen Coriolau.. Jetzt,
im Lessingtheater, wo das Deutsche Theater gastierte, wurde er nicht
geboren, wurde das Shalespeare=Stück anständig begraben.
*
Ein ähnliches Schicksal bereitete abermals das Deutsche Theater
diesmal in seinem eigenen Haus — der „Kameliendame“.
Hola! Wer hat den drolligen Einfall, Shakespeare und Dumas
(Dumas père!) in eine Visierlinie zu stellen? Der Franzose war
gewiß nur ein Kind seiner Epoche, wenn auch, just mit der
„Kameliendame", der ersten dramatischen Rettung der Edeldirne,
ein Mitschöpfer seiner Epoche. An seiner begrenzten Zeitlichkeit
könnte es liegen, daß er den Schauspielern unserer Zeit entrückt
wäre. Doch stimmt es heute noch nicht. Das Schauspiel des
älteren Dumas hält noch immer mit den Klammern eines aus¬
gezeichneten Theaterstücks die Zuschauer gefangen, und es hat die
große Rolle, die vor und nach der Sarah Bernhardt und der Duse
die Königinnen der Bühne in ihr Diadem flochten. Aber nun in
Berlin, wo man zufällig seit Jahrzehnten das Schauspiel nicht ge¬
sehen hatte, mochte die „Kameliendame einer jüngeren Generation
verblaßt und abgelebt dünken. Der zureichende Grund? Daß sich
die Modischen — die Schauspieler und ein „Bearbeiter“ — zwischen
das Publikum und den alten Dumas stellten. Es genügt nicht,
dieses Stück in der Kleidertracht der vierziger Jahre aufzuführen,
man muß es auch im inneren Stil des späteren Biedermeier geben,
mit allen kulturgeschichtlichen Formen seiner Gefühlswelt. Der
Modernisierung widerstrebt es, sie deckt das überholte auf und
distanziert uns. Daher ist die dramaturgische Bearbeitung
Theodor Taggers nicht etwa bloß „überflüssig“, sie ist schäd¬
lich und auffallend verständnislos, indem sie z. B. die entscheidende
Szene zwischen der Marguerite Gautier und dem Vater des Ge¬
liebten aus falscher Schen vor Empfindsamkeit derart kürzt, daß
das die Tragödie des Mädchens tragende Entsagungsopfer, die
Selbstverleumdung, dem Mitgefühl nicht erschlossen wird. Der
Regisseur (Bernhard Reich) verfiel derselben Verirrung;
superklug machte er aus dem Vater (Gronau) und aus dem
Liebhaber (Müthel) zwei moderne Skeptiker. Schließlich die
Hauptsache: die Marquerite der Elisabeth Bergnerl
Unserer wundervollen, im kleinsten klingenden Nerv lebendigen
Bergner! Auch als Kameliendame gab sie sich — und das will
sagen, daß es da und dort vom Himmel taute; doch sie gab nicht
die Marguerite, nicht das verlorene Kind im Strahlenglanz, nicht
das heroische Herz. Ein kleines, hilfloses Vögelchen zirpte und
slatterte, und die Sterbeszene, mit deren erhabener Qual und Glorie
der Sehnsucht die Duse, die Bellincioni uns überwältigt hatten,
schrumpfte ein zu einer klinischen Studie. Diese Aufführung be¬
wies nichts gegen die „Kameliendame“.
*
An mißglückter Darstellung scheiterte auch ein lobenswertes
Unternehmen des Rotterschen Lessingtheaters, die Ausgrabung von
Arthur Schnitzlers Jugenddrama „Das Märchen". Ein
Stück von Schnitzler, dem Meister — ein Experiment? Aber so
will es die urteilslose Erfolgsanbetung der Theaterdirektoren.
Ehe „Liebelei“ den Schnitzler hiebfest gemacht hatte, wurde „Das
Märchen“ vom Wiener Publikum abgelehnt. Das Odium blieb
Dr. Max Goldschmiel
an dem nicht mehr überprüften Schauspiel haften, und man ent¬
Büror Zeitungsausschnitte
behrte drei Jahrzehnte ang eine feine tragische Satire auf den
Teleion: Norden 3021
BERLIN N4
„vorurteislosen“ Mann. Der ist im Stück sogar ein Dichter,
einer also, den gesellschaftliche Gesetze nicht drücken, und dessen
Ausschnitt aus:
Feder für die Moral des Herzens streitet! Im Hause des von
Schlesische Seitung, Breslau
ihm geliebten jungen Mädchens (und sie liebt ihn) streiten die
Gäste über weibliche Brautschaft ohne Myrtenkranz, und der An¬
walt höherer Gerechtigkeit, noch nicht ahnend, daß er in eigener
Sache spricht, bekämpft mit schöner überzeugung die egoistische
Engherzigkeit der Männer, die paritanische Strenge nur gegen
Berliner Ur- und Erstaufführungen.
das andere Geschlecht üben und ein in der Seele rein gebliebenes,
einst der Verführung unterlegenes Mädchen nicht zu heiraten wagen.
(Shakespeares „Coriolan“. — Dumas' „Kamelien¬
Die Szene hat die Schwäche eines Jugendwerks, noch steckt Schnitz¬
dame“. — „Das Märchen“ von Schnitler. — Grabbes
ler im Debattierklub. Doch schon fallen die Streiflichter des
„Napoleon“.
„überfahrt“ von Sutton Vane.)
Psychologen auf die „jungen Leute“ Wiens. Und dann, in einem
Von Hermann Kienzl.
kurzen, stummen Augenblick, reichen uns Leben und Dichtung ihre
Den Shakespeare'schen „Coriolan“ hatte man seit
Rose: Wortlos preßt das erbebende Mädchen einen heißen Kuß
Matkowskys Tode in Berlin nicht gesehen. Wer jenes letzten Helden
der Dankbarkeit auf die Hand des Menschlichen. Eine Beichte
(der Bühne) gedachte, fragte bang: wird der Römer wiederkehren?
von so tiefer und zarter Beredsamkeit, daß sie stärker ergreift
Er ist als Fritz Kortner nicht gekommen. Der Empörer
als irgend Worte. Ein Märchen, dieses vom Schicksal frühzeitig
Kortner ist kein Nobilis. Ist, welchen Text auch seine Lippen
mißhandelte Kino, eigentlich in Reinheit aus schuldvoller Ver¬
sprechen, ein Genosse des Robespierre und der Volksrevolution. In
gangenheit emporgeblüht! Warm und hellblütig, war die kleine
begnadete Schauspielerin den Illusionen ihrer sehnsüchtigen
dunklen Gründen wurzelt seine Kraft. Man wäre allzu rasch mit
dem Wort zur Stelle: unsere Zeit könne keinen Coriolan hervor¬
Künstlerfeele zum Opfer gefallen, sie wird dem geliebten Mann
treuer sein als eine Wohlbehütete. Faltenlos breitet sie vor ihm
bringen. Gerade von den Schauspielern gilt es am wenigsten, daß
ihre Vergangenheit aus: wie der Prinz ihrer jungen Träume sie
ihr Geist durchaus vom Zeitgeist abhängt — es regieren andere
betrog und auch der zweite, in der Verlassenheit als Retter um¬
nicht politische Sterne in ihrem Reich die Zeit. Nannte Prinz
Hamlet die Schauspieler eine „lebendige Chronik“, so dachte er sie
klammert, sie verließ. Und jetzt? Der Ritter der schuldhaften
Unschuld, der Liebende, ist so klein wie alle. „Darüber kommt
als Vermittler der Dichtungen, in denen der Saft der Zeit
quillt. Ein Shakespeare=Mensch bleibt allezeit ein Stück Chronik: kein Mann weg.“ Aus der Pein seines Zwiespalts reißt er sich
Chronik der Menschheit. Wie immer Gegenwart und Zukunft] mit Brutalität. Ein Drama männlicher Selbstanklage. Es kommt
Das
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J. Dus nderene..
dem Volksverächter Coriolan entgegenstehen, jedes Tages schöner
Zufall kann uns einen Matkowsky bescheeren, einen Coriolau.. Jetzt,
im Lessingtheater, wo das Deutsche Theater gastierte, wurde er nicht
geboren, wurde das Shalespeare=Stück anständig begraben.
*
Ein ähnliches Schicksal bereitete abermals das Deutsche Theater
diesmal in seinem eigenen Haus — der „Kameliendame“.
Hola! Wer hat den drolligen Einfall, Shakespeare und Dumas
(Dumas père!) in eine Visierlinie zu stellen? Der Franzose war
gewiß nur ein Kind seiner Epoche, wenn auch, just mit der
„Kameliendame", der ersten dramatischen Rettung der Edeldirne,
ein Mitschöpfer seiner Epoche. An seiner begrenzten Zeitlichkeit
könnte es liegen, daß er den Schauspielern unserer Zeit entrückt
wäre. Doch stimmt es heute noch nicht. Das Schauspiel des
älteren Dumas hält noch immer mit den Klammern eines aus¬
gezeichneten Theaterstücks die Zuschauer gefangen, und es hat die
große Rolle, die vor und nach der Sarah Bernhardt und der Duse
die Königinnen der Bühne in ihr Diadem flochten. Aber nun in
Berlin, wo man zufällig seit Jahrzehnten das Schauspiel nicht ge¬
sehen hatte, mochte die „Kameliendame einer jüngeren Generation
verblaßt und abgelebt dünken. Der zureichende Grund? Daß sich
die Modischen — die Schauspieler und ein „Bearbeiter“ — zwischen
das Publikum und den alten Dumas stellten. Es genügt nicht,
dieses Stück in der Kleidertracht der vierziger Jahre aufzuführen,
man muß es auch im inneren Stil des späteren Biedermeier geben,
mit allen kulturgeschichtlichen Formen seiner Gefühlswelt. Der
Modernisierung widerstrebt es, sie deckt das überholte auf und
distanziert uns. Daher ist die dramaturgische Bearbeitung
Theodor Taggers nicht etwa bloß „überflüssig“, sie ist schäd¬
lich und auffallend verständnislos, indem sie z. B. die entscheidende
Szene zwischen der Marguerite Gautier und dem Vater des Ge¬
liebten aus falscher Schen vor Empfindsamkeit derart kürzt, daß
das die Tragödie des Mädchens tragende Entsagungsopfer, die
Selbstverleumdung, dem Mitgefühl nicht erschlossen wird. Der
Regisseur (Bernhard Reich) verfiel derselben Verirrung;
superklug machte er aus dem Vater (Gronau) und aus dem
Liebhaber (Müthel) zwei moderne Skeptiker. Schließlich die
Hauptsache: die Marquerite der Elisabeth Bergnerl
Unserer wundervollen, im kleinsten klingenden Nerv lebendigen
Bergner! Auch als Kameliendame gab sie sich — und das will
sagen, daß es da und dort vom Himmel taute; doch sie gab nicht
die Marguerite, nicht das verlorene Kind im Strahlenglanz, nicht
das heroische Herz. Ein kleines, hilfloses Vögelchen zirpte und
slatterte, und die Sterbeszene, mit deren erhabener Qual und Glorie
der Sehnsucht die Duse, die Bellincioni uns überwältigt hatten,
schrumpfte ein zu einer klinischen Studie. Diese Aufführung be¬
wies nichts gegen die „Kameliendame“.
*
An mißglückter Darstellung scheiterte auch ein lobenswertes
Unternehmen des Rotterschen Lessingtheaters, die Ausgrabung von
Arthur Schnitzlers Jugenddrama „Das Märchen". Ein
Stück von Schnitzler, dem Meister — ein Experiment? Aber so
will es die urteilslose Erfolgsanbetung der Theaterdirektoren.
Ehe „Liebelei“ den Schnitzler hiebfest gemacht hatte, wurde „Das
Märchen“ vom Wiener Publikum abgelehnt. Das Odium blieb
Dr. Max Goldschmiel
an dem nicht mehr überprüften Schauspiel haften, und man ent¬
Büror Zeitungsausschnitte
behrte drei Jahrzehnte ang eine feine tragische Satire auf den
Teleion: Norden 3021
BERLIN N4
„vorurteislosen“ Mann. Der ist im Stück sogar ein Dichter,
einer also, den gesellschaftliche Gesetze nicht drücken, und dessen
Ausschnitt aus:
Feder für die Moral des Herzens streitet! Im Hause des von
Schlesische Seitung, Breslau
ihm geliebten jungen Mädchens (und sie liebt ihn) streiten die
Gäste über weibliche Brautschaft ohne Myrtenkranz, und der An¬
walt höherer Gerechtigkeit, noch nicht ahnend, daß er in eigener
Sache spricht, bekämpft mit schöner überzeugung die egoistische
Engherzigkeit der Männer, die paritanische Strenge nur gegen
Berliner Ur- und Erstaufführungen.
das andere Geschlecht üben und ein in der Seele rein gebliebenes,
einst der Verführung unterlegenes Mädchen nicht zu heiraten wagen.
(Shakespeares „Coriolan“. — Dumas' „Kamelien¬
Die Szene hat die Schwäche eines Jugendwerks, noch steckt Schnitz¬
dame“. — „Das Märchen“ von Schnitler. — Grabbes
ler im Debattierklub. Doch schon fallen die Streiflichter des
„Napoleon“.
„überfahrt“ von Sutton Vane.)
Psychologen auf die „jungen Leute“ Wiens. Und dann, in einem
Von Hermann Kienzl.
kurzen, stummen Augenblick, reichen uns Leben und Dichtung ihre
Den Shakespeare'schen „Coriolan“ hatte man seit
Rose: Wortlos preßt das erbebende Mädchen einen heißen Kuß
Matkowskys Tode in Berlin nicht gesehen. Wer jenes letzten Helden
der Dankbarkeit auf die Hand des Menschlichen. Eine Beichte
(der Bühne) gedachte, fragte bang: wird der Römer wiederkehren?
von so tiefer und zarter Beredsamkeit, daß sie stärker ergreift
Er ist als Fritz Kortner nicht gekommen. Der Empörer
als irgend Worte. Ein Märchen, dieses vom Schicksal frühzeitig
Kortner ist kein Nobilis. Ist, welchen Text auch seine Lippen
mißhandelte Kino, eigentlich in Reinheit aus schuldvoller Ver¬
sprechen, ein Genosse des Robespierre und der Volksrevolution. In
gangenheit emporgeblüht! Warm und hellblütig, war die kleine
begnadete Schauspielerin den Illusionen ihrer sehnsüchtigen
dunklen Gründen wurzelt seine Kraft. Man wäre allzu rasch mit
dem Wort zur Stelle: unsere Zeit könne keinen Coriolan hervor¬
Künstlerfeele zum Opfer gefallen, sie wird dem geliebten Mann
treuer sein als eine Wohlbehütete. Faltenlos breitet sie vor ihm
bringen. Gerade von den Schauspielern gilt es am wenigsten, daß
ihre Vergangenheit aus: wie der Prinz ihrer jungen Träume sie
ihr Geist durchaus vom Zeitgeist abhängt — es regieren andere
betrog und auch der zweite, in der Verlassenheit als Retter um¬
nicht politische Sterne in ihrem Reich die Zeit. Nannte Prinz
Hamlet die Schauspieler eine „lebendige Chronik“, so dachte er sie
klammert, sie verließ. Und jetzt? Der Ritter der schuldhaften
Unschuld, der Liebende, ist so klein wie alle. „Darüber kommt
als Vermittler der Dichtungen, in denen der Saft der Zeit
quillt. Ein Shakespeare=Mensch bleibt allezeit ein Stück Chronik: kein Mann weg.“ Aus der Pein seines Zwiespalts reißt er sich
Chronik der Menschheit. Wie immer Gegenwart und Zukunft] mit Brutalität. Ein Drama männlicher Selbstanklage. Es kommt