IV, Gedichte und Sprüche 4, Der Geist im Wort und der Geist in der Tat, Seite 5

Teleion, Were-.
BERLIN N4
Ausschnitt aus:
Saarbrücker Zeitung
13. Feb. 1927
Schnitzler als Strukturpfycholog.
Arthur Schnitzler: Der Geist im Wort und
der Geist in der Tat. Verlag S. Fischer.
Berlin 1927.
Schnitzler versucht in dieser kleinen Schrift, die verschiedenen
Erscheiungsformen des Ceistesmenschen gegeneinander abzu¬
grenzen und zu beschreiben. Er betont, daß bei einem Men¬
schen nicht Beruf und nicht Charakter das für seine „geistige“
Beurteilung Entscheidende sei, sondern die eigentümliche
„Geistesverfassung“ in der er lebe und wirke. Dabei unter¬
scheidet Schnitzler positive und negative Typen: zu den
ersteren zählen Prophet, Dichter, Staatsmann, Historiker,
Priester, Philosoph, Held, Feloherr, Naturforscher, Entdecker,
athematiker, zu den letzteren „Tückebold“ (Bösewicht),
tiker, Journalist, Pfaffe, Sophist, Schwindler, Diktutor,
Quodsalber, Abenteurer und Spelulant. Diese „Geistesver¬
fassungen“ deaten sich natürlich nicht immer mit dem ent¬
sprechenden Beruf, sie träten überhaupt nur selten klar er¬
kennbar hervor, weil ihr Träger sich entweder ihrer selbst
nicht bewußt sei oder weil er eine andere Maske tragen wil!.
Scharfe und geduldige Beobachtung führe aber meistens zu
einer Demaskierung, zu einer Erkenntnis.
Schnitzler zeigt sich hier also von einer neuen Seite. Aber
nur formal: denn er drückt das, was ihn ein reiches Leben
sehen ließ, nicht in der Form der Erzählung aus, sondern in
der einer wissenschaftlichen Beschreibung. Und zwar bewegt er
sich dabei in der Richtung, die wir in den Werlen Jaspers
und Sprangers eingeschlaten finden, wo uns die Strulturen
der menschlichen Lebensformen beschrieben werden. Dieser
„diltheyanische Zug“ liegt anscheinend dem modernen Men¬
schen: er will keine spelulativen Theorien, sondern exakte Beob¬
achtung von Tatsachen und deren Einreihung in ein bestimm¬
tes Ordnungsgebiet, turz und gut: Klassisikation und Typo¬
logie. Was Dotanik, Zoologie oder Thermooynamik schon
längst als Methode und als Ziel haben fordert er auch von
den Gelsteswissenschaften und findet Erfüllung in den Dar¬
legungen der Strukturpsychologie. Es läßt sich aller¬
dings darüber streiten, ob dieser Wissenschaftszweig etwas so
ganz Neues ist, ob er sich nicht vielmehr mit guter Begrün¬
dung einfach zur deskriptiven Psychologie rechnen sollte. Aber
auch wenn dies zu bejahen wäre, so bliebe doch anzuerkennen,
daß er eine wesentliche Bereicherung der deskriptiven Psycho¬
logie und ihrer generalisierenden Methode darstellt. Der
Strukturpsycholog betont über allgemeinen Merlmalen der
menschlichen Psyche vor allem die Mannigfaltigkeit
von „Geistesverfassungen“, wie Schnitzler die typischen Ein¬
stellungen des Geistesmenschen gegenüber dem Leben nennt.
Er sieht wie Spranger den „ökonomischen“, den „ästhetischen“.
den „religiösen“, den „ethischen“ Menschen oder, wie Schnitz¬
ler, den Dichter, den Jcurnalisten, den Priester usw. Der
Mensch wird hier nicht unter dem Aspekt des Gemütes (froh,
ernst, gelassen, verzweifelt, impulsiv usw.) oder der In¬
telligenz (normal, Genie oder Kretin) betrachtel, sondern unter
dem einer gewissen Mentalität, die ganz verschieden ge¬
richet sein kann.
Hier liegen die Verdienste einer solchen Beirachtungsweise:
sie trägt dozu bei, den Mitmenschen als Vertreter eines Typs
kennen zu lernen, mit dem zu deskutieren oder sich menschlich
irgendwie zu assoziieren als gefährlich, wertlos oder auch
günstig und angenehm erscheint. Mit anderen Worten: Bin¬
dungen und Lösungen, also soziologische Vorgänge, werden
durch solche Erkenntnis erleichtert.
Freilich bleiben bei einer solchen Betrachtungsweise auch
viele Flagen offen. Wenn, wie Schnitzler meint, Uebergänge
von der einen „Geistesverfassung“ zu einer anderen nicht mög¬
lich sind, wenn die Mentalität also als angeboren, als unver¬
änderlich bezeichnet wird, könnte es keine „Wandlung“. kein
„Demaskus“ geben, die umstürzende Kraft des Erlehnisses
würbe damit geleugnet. Vielleicht will Schnitzler dies nicht
wahr haben, aber er wäre dann nach seiner „Theorie“ ge¬
zwungen, zu sagen, daß ein Paulus noch immer dieselbe Men¬
talität besitze wie als Saulus. Ist dies der Fall — Schnitz¬
lers Darlegungen fordern diesen Schluß geradezu heraus —,
so muß aber auch weiter zugegeben werden, daß die Men¬
talität an und für sich mit positiven und negativen Vorzeichen
(Gott — Teufel) nicht versehen werden darf. Denn dann
ist die Mentalität nur eine neutrale Form. Die rabbinische
Mentalität würde dann weder bei einer Beurteilung des
Saulus noch bei der eines Paulus etwas Entscheidendes be¬
deuten — das „innere“ Erlebnis, nicht die „neutrale“ Form
der Mentalität wird weiterhin den Ausschlag geben. Die
„Eeistesverfassungen“ dürften dann nur als „Fertigkeiten“ an¬
gesehen werden, hinter denen die „Intention“ das wirklich
Gemeinte, erst aufzusuchen wäre.
Schnitzler gibt seiner Schrift allerdings den Untertitel „Vor¬
läufige Benerkungen“ Man kann also noch kein endgültiges
Urteil über seine strukturp ychologischen Betrachtungen fällen,
sondern wird erst die volle Durcharbeitung seiner Gedanken
Albrecht Völhlein.
ahmarten müssen.