IV, Gedichte und Sprüche 4, Der Geist im Wort und der Geist in der Tat, Seite 4

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Der Geist in wort und der Geist in der rat
Dr. Max Goldschmidt
Büro für Zeitungsausschnitte
BERLIN N4
Telefon: Norden 3051
Ausschnitt aus:
Königsberger Hartungsche Zeitung
+. Feb. 192.

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Geistesverfassung. Doch auch hier handelt es sich immer nur um Affi¬
nität, nicht um notwendige Brziehung oder gar um Identität. Es
Begabung
kann gelegentlich ein sehr hohes Maß dichterischer Begabung vorliegen,
ohne daß das betreffende Individuum als Repräsentant des Tovus
Von Arthur Schnitzler
Dichter zu bezeichnen wäre, wie wir andererseits wieder echten Re¬

ffäser eine kleine Schrift
präsentanten des Typus Dichter von geringer dichterischer
Soeben erschien im Verlag##
des Dichters „Der Geist im Wort und der Geist in
Begabung begeonen.
der Tat“, Schnitzler versucht in dieser Schrift Urtypen
So gibt as dichterisch höchst begabte Schriftsteller, die der Geistes¬
des menschlichen Geistes das Wesen seiner Repräsentation
#verfassung nach nicht als Dichter, sondern als Hisioriker (Kontinna¬
listen) zu bezeichnen wären; es gibt auch dichterische Begabungen (be¬
in Wort und Tat zu schilbern.
sonders solche mit vorwiegend bsychologischer Einstellung), die der
Wir können allgemeine und spezifische Begabungen
Geistesverfassung nach dem Typ Naturforscher angehören, und es gibt
unterscheiden.
Dichter zuweilen hohen Ranges, die dem Typus Prophet zuzuzäh¬
Die allgemeinen Begabungen könnte man auch als allgemeine An¬
len sind.
lagen intellektueller Natur bezeichnen, wie z. B. Fleiß Phantasie,
Im negativen Gebiet sind die Affinitäten zwischen bestimm¬
— im Gegensaßz zu den Anlagen erhischer Natur, den
Scharfsinn
teu Geistesverfassungen und den entsprechenden Begabungen deutlicher
eigentlichen Charakteranlagen, wie z. B. Gute, Gerechtigkeit, Grau¬
und stärker ausgevrägt als im positiven Gebiet Es gibt z. B. Re¬
samkeit usw
prätentanten des Trpus Staatsmann mit mäßiger staatsmännischer,
Bei manchen allgemeinen Anlagen wird es sich schwer entscheiden
— Repräsentanten des Typus Politiker mit hoher politischer Be¬
lassen, ob sie eher den Anlagen intellektueller oder den Anlagen ethi¬
gabung. Und so kann es geschehen, daß der hochbegabte Politiker für
scher Natur zuzuzählen sind (z. B. Schlauheit).
einen großen Staatsmann, der mäßig begabte Staatsmann für einen
Die allgemeinen Begabungen sind in Hinsicht auf die Gesamtper¬
schwachen Politiker gehalten wird.
sönlichkeit oft bedeutungsvoller als die spezifischen Begabungen, und
Die individuelle geistige Leistung wird im allgemeinen um so er¬
je nach ihrem Grade auch mehr oder minder bestimmend für die Ent¬
heblicher sein, eine je ausgeprägtere Affinität zwischen der angebore¬
wicklungsmöglichkeiten einer svezifischen Begabung. So wird z. B.
nen Geistesverfassung und der spezifischen Begabung besteht und je
die Phantasie fördernd auf die dichterische, der Scharfsinn auf die
höher diese spezifische Begabung entwickelt ist.
philesophische Begabung wirken usw.
Es braucht nicht erst darauf hingewiesen zu werden, daß eine
Eine allgemeine Begabung darf nicht verwechselt werden mit einer
ganze Reihe von Begabungen, z. B. die musikalische, innerhalb dieser
vielseitigen Begabung, worunter wir bekanntlich das Vorkommen
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Ausführungen keinen Platz finden, die sich nur mit dem Geist im Wort
mehrerer verschiedenartiger spezifischer Begabungen in einem und dem¬
und mit dem Geist in der Tat befassen. Selbstverständlich aber gibt
selben Individuum verstehen.
es auch unter den Musisern Geistesmenschen, d. h. Repräsentanten
Bestimmte allgemeine Begabungen zeigen geradeso wie bestimmte

irgendeiner Geistesverfassung, wie wir andererseits oft genua, auch
spezifische Begabungen Affinitäten zu bestimmten Geistesverfassungen.
unter den Angehörigen der sogenannten geistigen Berufe, Menschen
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So wird z. B. die sogenannte diplomatische Begabung sich
finden, die nicht den Geistesmenschen zuzuzählen sind.
besonders häufig beim Staatsmann und Politiker finden.
S
Als Beispiele für spezifische Begabungen seien für hundert
andere hier vorläufig nur die dichterische. schriftstellerische, rhetortsche
1
staatsmännische, politische angeführt. Man merkt hier nicht zum
ersten Ttal, daß für manche Arten von spezifischer Begabung gleiche
Bezeichnungen gebraucht werden, wie sie für Typen von Geistesverfas¬
sungen angewendet wurden Und gerade der Umstand, daß wir für
eine bestimmte spezisische Begahung und für eine bestimente Geistes¬
verfassung häufig das gleiche Wort haben, aibt zu Inümern und i
Fehldiagnosen oft verhängnisvollen Anlaß. Aber dichterische Geistes¬
verfassung und dichterische Begabung, journalistische Geistesverfassung
und sournalistische Begabung sind keineswegs dasselbe, und gerade so
wie Geistesverfassungen und Berufsarten müssen auch Geistesverfase
sungen und Begabungen, auch wo gleiche Bezeichnung für beide an¬
gewendet wird, streng unterschieden werden.
Die spezisischen Begabungen sind wohl durchaus an¬
geboren, müssen aber keineswegs in jedem Falle zur Entwicklung,
ja, müssen nict einmal zur Erscheinung kommen. Aeußere Einflüsse.
persönliche Schicksale können ihre Vertümmerung oder auch ihre Ver¬
vollkommnung zur Folge haben.
Gewisse Affinitäten zwischen bestimmten Geistesverfassungen und
bestimmten Begabungen leuchten ohne weiteres ein, wie z. B. die
zwischen ein spezifisch dichterischen Begabung und der dicht erischen