IV, Gedichte und Sprüche 6, Über den Krieg, Seite 2

KneS
Die letzte Nummer der „Neuen Rundschau“ ver¬
öffentlicht drei Geschichten und die nachfolgenden
Aufzeichnungen aus der Nachkriegszeit (1915 ge¬
schrieben) aus dem Nachlaß von Arthur
Schnitzler. Der Dichter wäre am 15. Mai
siebzig Jahre alt geworden.
Viele Feuilletonisten finden, daß die Mensch¬
heit nach diesem Krieg gereinigt und geläutert
sein werde. Die Gründe für diese Annahme
sind undar: Keiner der Kriege, die bisher in der
Welt geführt worden sind, hat diese Folge ge¬
zeitigt. Die Folge der siegreichen Kriege ist bei¬
nahe regelmäßig politische Reaktion; die Folge
der verlornen Revolution. Beide Folgen sind
gewissermaßen Erschöpfungzustände. Jedes Er¬
eignis hat natürlich die Macht, in gewissen,
dazu veranlagten Menschen große, edle Eigen¬
schaften zur Erscheinung zu bringen, die sonst
keine Entwicklungsmöglichkeit gefunden hätten.
Gleiches gilt aber auch für schlechte Eigenschaf¬
ten. Außerdem müßte man sich über die Be¬
trachtungweise einigen. Manches sieht wie
Heroismus aus, aber man darf nicht vergessen,
daß gerade im Krieg häufig Situationen ein¬
treten, in denen Tapferkeit das sicherste Mittel
ist, der Gefahr zu entgehen. Es ist sehr wohl zu
denken, daß derselbe junge Mann, der z. B. bei
einem Brandunglück wehrlose Kinder und
Frauen zertritt, um ins Freie zu gelangen, als
Offizier seine Truppe mit Todesverachtung zum
Sturm führt. Man muß auch Zeit haben, seine
großen Eigenschaften vorzubereiten. Wer wer¬
den die Geläuterten sein? Die ein Bein verloren
heben oder ein Auge? Oder die Eltern, die ein
Kind, die Frauen, die ihren Mann verloren
hhaben? Oder die Leute, die zugvunde gingen?
Oder die Leute, die durch Armeelieferungen Mil¬
lionen verdient haben? Oder die Diplomaten,
die den Krieg angezettelt haben? Oder die
Monarchen, die siegreichen oder die geschla¬
genen? Oder die Feurlletonisten, die daheim ge¬
blieben sind? Diejenigen, die geläutert sein wer¬
den — ich wage es zu vermuten — sind es schon
vorher gewesen.
Gewisse Epochen lassen ihre ganze Grauen¬
haftigkeit besonders darin erkennen, daß inner¬
halb ihrer zum größten Unrecht werden kann,
was sonst das erste Gebot aller Sittlichkeit
scheint, nämlich: die Wahrheit aussprechen.
Evochen, in denen die Wahrheit nicht nur ge¬
jährlich werden kann für diejenigen, die sie aus¬
sprechen, sondern auch für diejenigen, die sie
hören, sind im Innersten ungesund.
Wodurch werden Kriege möglich? 1. Durch
die Schurkerei der Machtigen, 2. die Dumm¬
heit der Diplomatie und 3. die Phantasielosig¬
keit der Völker. Diese letztere wird unterstützt
durch die in Geschichte und Politik übliche Flucht
ins Abstrakte. Schon die Mehrzahl an sich hat
die geheimnisvolle Kraft, das Konkrete ins Ab¬
strakte umzuzaubern. Tausend Verwundete stel¬
len sich für die Phantasie keineswegs so schlimm
dar als ein Verwundeter. Sie bedeuten nicht
tausendmal eins, auch nicht eins, auch nicht
einen Bruchteil von eins, sondern sogar etwas
quantitativ anderes.
Der Satz von Clausewitz, daß Krieg nichts
anderes sei als die Politik mit andern Mitteln,
ist geistreich, also halbwahr, also gefährlich, also
Unsinn. Ebenso auch der Satz, daß der Krieg
eine Notwendigkeit sei und man sich daher nicht
gegen ihn auflehnen dürfe. Auch Pest und
Cholera sind Notwendigkeiten. Erst daß wir
uns gegen angebliche Notwendigkeiten auflehnen,
macht uns ja zu Menschen. Und jedenfalls ist
auch das Zurwehrsetzen Notwendigkeit. Glauben
wir nicht an den freien Willen, so ist die Welt
ein Unsinn; und wir haben allen Grund, an den
freien Willen zu glauben, denn da er die Welt
zu schaffen vermochte, kann er auch nicht aus
der Welt geschwunden sein.
Große Zeit, das ist diejenige, in der die Ent¬
deckungen und Erfindungen, die in der kleinen
Zeit gemacht worden sind zur Tötung und
Verstümmelung von Menschen sowie zur Ver¬
nichtung der in der kleinen Zeit entstandenen
Werte und Werke ausgenützt werden.
Sobald ich einen im Feld Erblindeten kennen¬
gelernt haben werde, der auch um den Preis
seines Augenlichts nicht darauf verzichten würde,
diese große Zeit tätig und leidend mitgemacht zu
haben, erst dann werde ich glauben, daß es
wirklich eine große Zeit gewesen ist.