V, Textsammlungen 1, Die Frau des Weisen. Novelletten, Seite 41

1. Die Frau des Neisen box 35/6
COSMOPOLIS.
den (viellach in Unfug ausartenden) Volks-Pranger der
“ Haberer.“ Wer immer an dem Bund dieser bäuerlichen
Rügegerichte teilnahm, sollte nicht nur im Kerker büssen. Die
Kirche bannte ihn und verweigerte ihm das Grab in geweihter
Erde. Anfangs trotzen die starken Selbsthelfer solchen
Drohungen. Die Heldenjungfrau Wiltraud, ein Ausbund
aller Jugend, Tugend und Schönheit, fügt sich indessen nicht
dem Machtgebot eines starrsinnigen, fanatischen Priesters.
Als Der die Leiche ihres —zum Ueberfluss unschuldig als
“ Haberer“ bestraften — Bruders ausserhalb der Friedhof¬
mauer, wie einen toten Hund, verscharren lässt, schleicht sie
in nachtschlafender Zeit auf den Gottesacker, gräbt die Leiche
aus und trägt sie mit übermenschlicher Kraft zu der in ge¬
weihter Erde ruhenden Gruft des Vaters hinüber. Der
Heroismus der neuen Antigone rührt ihren Hämon, den
bedauernswerten Sohn eines von den“ Haberern“ hart heim¬
gesuchten Dorfwucherers und — kann es in den bayrischen
Bergen einen ärgeren Frevler geben? — Bier-Verfälschers.
Er bekennt sich zur Schuld, derentwillen Wiltrauds Bruder
ungerechter Weise im Zuchthaus sitzen musste. Der Pfarr¬
herr sicht ein, dass er zu weit gegangen. Antigone bleibt am
Leben. Sie wird Hämons Gattin, Mutter vieler Kinder und —
wenn der Geist der Mutter unserer Dichterin Wilhelmine von
Hillern — Charlotte Birch-Pfeiffer — nicht ganz vom Erdboden
verschwunden bleibt — früher oder später die Hauptrolle eines
griechisch-deutschen Bauern-Schauspiels: Autigone rediviva.
An geräuschvollen Volksscenen würde es nicht fehlen. Statt
der unleidlichen Theater-Bauern und ihrer Schuhplattl-Tänze
gäbe es regelrechte Schlachten der vermummten Haberer mit
der Gensdarmerie. Und gegen die Neubelebung der altüber¬
lieferten Sophokleischen Dichtung wäre an sich nichts einzu¬
wenden. Schrieb nicht Turgenjew einen König Lear der
Steppe? Ist nicht Balzacs Père Goriot ein bürgerlicher Lear?
Und hat nicht Gottfried Keller an den Eingang seiner Novelle
“ Romeo und Julie auf dem Dorfe“ die Worte gesetzt:
Diese Geschichte zu erzählen, würde eine müssige Nachahmung sein
wenn sie nicht auf einem wirklichen Vorfall beruhte, zum Beweise, wie
tief im Menschenleben jede jener Fabeln wurzelt, auf welche die grossen
alten Werke gebaut sind. Die Zahl solcher Fabeln ist mässig; aber stets

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