Rundschau.
Neue Novellen.
Umweg eingeschlagen wird, um wenn nicht
Die Novelle ist eine romantische Dich=, die Form, so doch das Format der Novelle
tungsart: sie fordert die Darstellung des zu erfüllen: es entsteht die Skizze: ein Lebens¬
Besonderen und schließt das Allgemein¬
ausschnitt mit symbolischem oder lyrischem
giltige und Typische aus. Die Außer¬
Akzent. Die geringe Erfindungskraft des
ordentlichkeit eines Schicksals, eines Cha¬
Autors verankert sich im Psychologischen.
rakters, einer Begebenheit ist ihr Gegenstand
Psychologie ersetzt Phantasie, Deskription
und damit erscheint sie ästhetisch determiniert.
Spannung und die kleinste Fläche Leben
Die berühmt gewordene Zolasche These,
wird unendlich. Mit exquisiter stiliftischer
die, wohl mehr geistvoll als treffend, Kunst
Kunst wird so ein Interesse wachgehalten.
als „ein Stück Natur, gesehen durch ein
das die dürftigen erzählten Vorgänge aus
Temperament“ definiert wissen will, würde
sich kaum zu beschäftigen vermöchten. Indes
an ihr am sinnfälligsten scheitern. Kunst ist
sich nun diese neue dichterische Form durch¬
kein Stück Natur, sondern Eigenstoff und
zusetzen trachtet, verkümmert die reine Epi¬
sie wäre leicht erreicht, wenn Temperament
bei pfendoromantischen und epigonischen
schöpferische Anlage, beobachtende Begabung,
Autoren einer überlebten Generation.
gestaltende Kraft zu ersetzen vermöchte. Der
Es ist begreiflich, daß diese psychologi¬
Satz, daß alles in der Natur und im mensch¬
sierende Kunst nicht mit Lebenskraft genug
lichen Zusammenleben künstlerischer Dar¬
begabt sein konnte, um zu dauern, geschweige
stellung wert sei, wird an der Novelle am
denn: sich zu entwickeln. Ihr glänzendster
deutlichsten widerlegt; einem solchen bewußt
Repräsentant, Arthur Schnitzler, der sie schon
literaturschaffenden, grenzenlosen, tendenziö¬
mit den „Dämmerse#lassen be¬
sen Naturalismus muß sie sich entziehen und
gonnen hat, sagt sich nun in seinem letzten
in der Tat beweist ein Überblick über die
Novellenbuch „Masken und Wunder““ von
Geschichte der Literaturen des vorigen Jahr¬
ihr endgiltig los. Er versucht einen größeren
hunderts, daß eine — in diesem Sinn
Zug, indem er anstatt der Verästelungen und
naturalistische Nooellistik so gut wie nicht
Verwirrungen der seelischen Linien den reinen
existiert. Wer hier an Maupassant denkt,
Bogen menschlichen Schicksals von seinem
vergesse nicht, daß sich bei ihm der Begriff
dunklen Willen an über seine gesamte Lebens¬
des Naturalismus lediglich in der Abspiege¬
höhe bis in das Sinnlose seines Absturzes
lung zeitgenössischen Lebens ausdrückt und
zieht, und er scheint geneigt, an eine außer¬
daß seine Erzählungen — soferne sie nicht
irdische Vorbestimmung und planvolle Fest¬
Skizzen sind — durchaus Besonderheiten,
legung dieser Kuroen zu glauben. Die schöne
Spannungen, bedeutende Anlässe zum Grunde
Parabel: „Die dreifache Warnung“ enthält
haben, vor allem aber: daß die verkürzende
das Innerste dieser Anschauung; die „Hirten¬
und abstrahierende Darstellungsform, in der
slöte“ sollte sie darstellen. Dies ist nun
sie abgefaßt sind, dem innersten Wesen des
Schnitzler künstlerisch nicht gelungen. Die
Naturalismus, der sich im Konkreten er¬
Tiefe des Vorwurfes, die Märchenhaftigkeit
schöpfen möchte, widerspricht.
des Inhaltes, die Getragenheit der Sprache
Dieses festgehalten, erklärt sich der Tief¬
vermochten die Novelle nicht zu erheben, die
stand der deutschen Novelle in den letzten
an innerer Unwahrscheinlichkeit und einer
Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts. Was
Vermischung heterogenster Elemente krankt
hier von den sogenannten Naturalisten ge¬
und endlich ins Leere wirkt. Wir sehen eine
schaffen wurde, zählt nicht mehr. Ohne
längst vergangene Romantik plötzlich in ein
Phantasie, nur mit Beobachtung gestaltet
gegenwärtiges Zeitalter unvermittelt über¬
man nicht; Kunst aber ist kaum noch anderes
gehen, verfolgen die Entwicklung eines
S. Fischer in Berlin.
als Gestaltung. Wir sehen nun, daß ein
Oe K. ¼ 1
Schicksals, das willkürlich, wie auf dem
Theater, gelenkt wird, das wechselt und
und wandert, wie um viele Beispiele für
eine Lösung zu erzielen, die längst vorbe¬
schlossen ist. Die Gestalt des Sterneschauers
Erasmus ist der einzige Gewinn dieser mit
vielem Aufwand von Geist und dichterischen
Kräften erarbeiteten Novelle. Weitaus be¬
deutender und ergreifender ist der „Mörder“
das beste Stück des Bandes, in der Uner¬
bittlichkeit einer Tat und eines Schicksals
von erschütternder Gewalt und von erlesener
Kunst der Darstellung. Die anderen Novellen:
„Der Tod des Junggesellen" und „Der tote
Gabriel“ sind noch aus der früheren Sphäre
Schnitzlerscher Epik, die Liebe und Tod
gerne irgendwie verbindet, irgendwie löst und
plötzlich wieder in die Welt zurückgekehrt
ist. Diese leisen episodischen Melancholien
sind nie von besonderer Tiefe, aber von
einem eigenartigen Reiz, der sie zu er¬
setzen scheint und die Leichtigkeit und
Grazie des dichterischen Gebildes bleibt
bewundernswert. Die letzte Erzählung:
„Das Tagebuch der Redegonda“ erreicht das
Niveau Schnitzlerscher Kunst nicht; sie wagt
sich auf fremden und ihrer unwürdigen Boden
und versagt völlig. Die Führung der Sprache
sucht Goethescher Spätprosa zu folgen, nicht
immer mit gleichem Glück, oft allerdings mit
außerordentlichem, und so kündet sich nicht
nur in der Wahl und Deutung höher gear¬
teten Stoffes, auch in der reineren Form
das Alter an. Der Dichter, der nun in das
sechste Dezennium seines Lebens tritt, zeigt
ich
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Neue Novellen.
Umweg eingeschlagen wird, um wenn nicht
Die Novelle ist eine romantische Dich=, die Form, so doch das Format der Novelle
tungsart: sie fordert die Darstellung des zu erfüllen: es entsteht die Skizze: ein Lebens¬
Besonderen und schließt das Allgemein¬
ausschnitt mit symbolischem oder lyrischem
giltige und Typische aus. Die Außer¬
Akzent. Die geringe Erfindungskraft des
ordentlichkeit eines Schicksals, eines Cha¬
Autors verankert sich im Psychologischen.
rakters, einer Begebenheit ist ihr Gegenstand
Psychologie ersetzt Phantasie, Deskription
und damit erscheint sie ästhetisch determiniert.
Spannung und die kleinste Fläche Leben
Die berühmt gewordene Zolasche These,
wird unendlich. Mit exquisiter stiliftischer
die, wohl mehr geistvoll als treffend, Kunst
Kunst wird so ein Interesse wachgehalten.
als „ein Stück Natur, gesehen durch ein
das die dürftigen erzählten Vorgänge aus
Temperament“ definiert wissen will, würde
sich kaum zu beschäftigen vermöchten. Indes
an ihr am sinnfälligsten scheitern. Kunst ist
sich nun diese neue dichterische Form durch¬
kein Stück Natur, sondern Eigenstoff und
zusetzen trachtet, verkümmert die reine Epi¬
sie wäre leicht erreicht, wenn Temperament
bei pfendoromantischen und epigonischen
schöpferische Anlage, beobachtende Begabung,
Autoren einer überlebten Generation.
gestaltende Kraft zu ersetzen vermöchte. Der
Es ist begreiflich, daß diese psychologi¬
Satz, daß alles in der Natur und im mensch¬
sierende Kunst nicht mit Lebenskraft genug
lichen Zusammenleben künstlerischer Dar¬
begabt sein konnte, um zu dauern, geschweige
stellung wert sei, wird an der Novelle am
denn: sich zu entwickeln. Ihr glänzendster
deutlichsten widerlegt; einem solchen bewußt
Repräsentant, Arthur Schnitzler, der sie schon
literaturschaffenden, grenzenlosen, tendenziö¬
mit den „Dämmerse#lassen be¬
sen Naturalismus muß sie sich entziehen und
gonnen hat, sagt sich nun in seinem letzten
in der Tat beweist ein Überblick über die
Novellenbuch „Masken und Wunder““ von
Geschichte der Literaturen des vorigen Jahr¬
ihr endgiltig los. Er versucht einen größeren
hunderts, daß eine — in diesem Sinn
Zug, indem er anstatt der Verästelungen und
naturalistische Nooellistik so gut wie nicht
Verwirrungen der seelischen Linien den reinen
existiert. Wer hier an Maupassant denkt,
Bogen menschlichen Schicksals von seinem
vergesse nicht, daß sich bei ihm der Begriff
dunklen Willen an über seine gesamte Lebens¬
des Naturalismus lediglich in der Abspiege¬
höhe bis in das Sinnlose seines Absturzes
lung zeitgenössischen Lebens ausdrückt und
zieht, und er scheint geneigt, an eine außer¬
daß seine Erzählungen — soferne sie nicht
irdische Vorbestimmung und planvolle Fest¬
Skizzen sind — durchaus Besonderheiten,
legung dieser Kuroen zu glauben. Die schöne
Spannungen, bedeutende Anlässe zum Grunde
Parabel: „Die dreifache Warnung“ enthält
haben, vor allem aber: daß die verkürzende
das Innerste dieser Anschauung; die „Hirten¬
und abstrahierende Darstellungsform, in der
slöte“ sollte sie darstellen. Dies ist nun
sie abgefaßt sind, dem innersten Wesen des
Schnitzler künstlerisch nicht gelungen. Die
Naturalismus, der sich im Konkreten er¬
Tiefe des Vorwurfes, die Märchenhaftigkeit
schöpfen möchte, widerspricht.
des Inhaltes, die Getragenheit der Sprache
Dieses festgehalten, erklärt sich der Tief¬
vermochten die Novelle nicht zu erheben, die
stand der deutschen Novelle in den letzten
an innerer Unwahrscheinlichkeit und einer
Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts. Was
Vermischung heterogenster Elemente krankt
hier von den sogenannten Naturalisten ge¬
und endlich ins Leere wirkt. Wir sehen eine
schaffen wurde, zählt nicht mehr. Ohne
längst vergangene Romantik plötzlich in ein
Phantasie, nur mit Beobachtung gestaltet
gegenwärtiges Zeitalter unvermittelt über¬
man nicht; Kunst aber ist kaum noch anderes
gehen, verfolgen die Entwicklung eines
S. Fischer in Berlin.
als Gestaltung. Wir sehen nun, daß ein
Oe K. ¼ 1
Schicksals, das willkürlich, wie auf dem
Theater, gelenkt wird, das wechselt und
und wandert, wie um viele Beispiele für
eine Lösung zu erzielen, die längst vorbe¬
schlossen ist. Die Gestalt des Sterneschauers
Erasmus ist der einzige Gewinn dieser mit
vielem Aufwand von Geist und dichterischen
Kräften erarbeiteten Novelle. Weitaus be¬
deutender und ergreifender ist der „Mörder“
das beste Stück des Bandes, in der Uner¬
bittlichkeit einer Tat und eines Schicksals
von erschütternder Gewalt und von erlesener
Kunst der Darstellung. Die anderen Novellen:
„Der Tod des Junggesellen" und „Der tote
Gabriel“ sind noch aus der früheren Sphäre
Schnitzlerscher Epik, die Liebe und Tod
gerne irgendwie verbindet, irgendwie löst und
plötzlich wieder in die Welt zurückgekehrt
ist. Diese leisen episodischen Melancholien
sind nie von besonderer Tiefe, aber von
einem eigenartigen Reiz, der sie zu er¬
setzen scheint und die Leichtigkeit und
Grazie des dichterischen Gebildes bleibt
bewundernswert. Die letzte Erzählung:
„Das Tagebuch der Redegonda“ erreicht das
Niveau Schnitzlerscher Kunst nicht; sie wagt
sich auf fremden und ihrer unwürdigen Boden
und versagt völlig. Die Führung der Sprache
sucht Goethescher Spätprosa zu folgen, nicht
immer mit gleichem Glück, oft allerdings mit
außerordentlichem, und so kündet sich nicht
nur in der Wahl und Deutung höher gear¬
teten Stoffes, auch in der reineren Form
das Alter an. Der Dichter, der nun in das
sechste Dezennium seines Lebens tritt, zeigt
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