V, Textsammlungen 2, Die griechische Tänzerin. Novellen, Seite 5

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2. Die griechische Taenzerin
Seite 435.
Beilage zur Allgemeinen Zeitung.
Nr. 203.
und etwas Pathologisches darin erblicken, wenn der edle Lord
unterkommen sollen. Es muß die Ueberspannung beseitigt
die Intensität seines Subjektivismus, die Tiefinnerlichkeit
werden, zu der unsere Lebensformen, wie sie durch das
seines Sicheinsfühlens mit der Natur, seines Hinüberfließens
Ueberwiegen der großstädtischen Kultur bedingt sind, im
in die Unendlichkeit derselben durch folgendes Beispiel beleuch¬
Laufe der Zeit immer mehr und mehr hinaufgetrieben
tet: „Ich hatte unlängst den Auftrag gegeben, den Ratten
werden. Das massenhafte Hinausfluten der städtischen
in den Milchkellern eines meiner Meierhöfe ausgiebig Gift
Bevölkerung auf das Land während einer kurzen Zeit des
zu streuen. Ich ritt gegen Abend aus und dachte, wie Sie
Jahres bietet wenigstens einigermaßen einen Ausgleich
vermuten können, nicht weiter an diese Sache. Da, wie ich
für jene Ueberspannung dar. Denn es kehren aus den
im tiefen, aufgeworfenen Ackerboden Schritt reite, nichts
Sommerfrischen doch alljährlich nicht nur Tausende von
Schlimmeres in meiner Nähe als eine aufgescheuchte Wachtel¬
gebesserten Arbeitsenergien in die Städte zurück, sondern
brut und in der Ferne über den welligen Feldern die große
auch ein Hauch des freien, anregenden, belebenden Natur¬
sinkende Sonne, tut sich mir im Innern plötzlich dieser Keller
lebens, das die Mehrzahl der Ausflügler dort draußen ge¬
auf, erfüllt mit dem Todeskampf dieses Volkes von Ratten.
noß, strömt mit den Heimkehrenden in die Stickluft der
Alles war in mir: die mit dem süßlich scharfen Geruch des
Häusermeere hinein und wirkt dort fort zur Heranbildung
Giftes angefüllte kühldumpfe Kellerluft und das Gellen der
einer natürlichen und vernünftigeren Lebensweise. Freilich
Todesschreie, die sich an modrigen Mauern brachen; diese in¬
bringt der großartige Austausch zwischen Stadt und La#d,
einander geknäuelten Krämpfe der Ohnmacht, durcheinander
der jetzt allsommerlich sich vollzieht, zunächst auch eine
hinjagenden Verzweiflungen; das wahnwitzige Suchen der
Ueberflutung des Landes in seinen vielbesuchten Punkten
Ausgänge; der kalte Blick der Wut, wenn zwei einander an
durch städtische Lebensgewohnheiten mit sich. Aber in
Sie entsinnen sich der
der verstopften Ritze begegnen. ...
tausend Armen ergießt sich ja der sommerliche Strom
wundervollen Schilderung von den Stunden, die der Zer¬
immer weiter in noch unberührtes Land hinaus und immer
störung von Alba Longa vorhergehen, aus dem Livius?
neue Quellen für ruhige Erholung und für Kräftigung des
Wie sie die Straßen durchirren, die sie nicht mehr sehen
Naturgefühls in uns erschließen sich den Suchenden. Noch
sollen . . ., wie sie von den Steinen des Bodens Abschied neh¬
für lange Jahre wird das Land den müden Großstädtern
men. Ich sage Ihnen, dieses trug ich in mir und das bren¬
stille Winkel und einfache Wohnungsstätten bieten, und der
nende Karthago zugleich; aber es war mehr, es war göttlicher,
fruchtbare für die Gesundung unseres Volkslebens so wich¬
tierischer; und es war Gegenwart, die vollste erhabenste
#tige Ausgleich zwischen städtischen und ländlichen Lebens¬
Gegenwart. Da war eine Mutter, die ihre sterbenden Jun¬
formen kann immer weitere Kreise ziehen.
gen um sich zucken hatte und nicht auf die Verendenden, nicht
O. B.
auf die unerbittlichen steinernen Mauern, sondern in die leere

Luft . .. Blicke schickte und diese Blicke mit einem Knirschen
begleitete!“ Im übrigen gemahnt der Brief an die bewegliche
Klage Schillers, daß „spricht die Seele, so spricht achl schon
Eine Bibliothek moderner deutscher Autoren.
die Seele nicht mehr!“ und an Goethes Verse:
In dem rührigen Wiener Verlag ist eben eine aus zehn
Worte sind der Seele Bild, Nicht ein Bild, sie sind ein Schatten.
Bänden bestehende Bibliothek moderner deutscher Autoren er¬
Der dritte Band ist von Georg Hirschfeld und nach
schienen. Arthur Schnitzler eröffnet den Reigen mit
der ersten Geschichte „Erlebnis“ benannt. Diese ist höchst un¬
einem Büchlein, das nach der vierten und letzten Erzählung
erquicklich. Sie behandelt die blutleere Liebe zweier Halb¬
„Die griechische Tänzerin“ betitelt ist. Es wird durch eine
naturen. In Adele, die einen gelehrten Bücherwurm ge¬
seelenvolle, feingestimmte und fein analysierende ##hlung
heiratet, weil sie einen wirklichen „Mann“ noch nicht kannte,
„Der blinde Geronimo und sein Bruder“ eingeleitet. Sie
wird das Weib durch den Umgang mit dem von ihrem Gatten
wäre ein Kabinettsstück moderner Erzählungskunst, wenn
geschätzten und ins Haus gezogenen Maler Wilhelm Berghaus
die Peripetie genügend motiviert wäre. Allein dies ist nicht der
wach. Ein wundersamer Märchentraum des Glücks umfängt
Fall. Der blinde musizierende Bettler Geronimo wird von
die Liebenden, aus dem Wilhelm jedoch durch das an seiner
Mißtrauen gegen seinen Begleiter und Bruder erfüllt, weil
Kunst zehrende Bewußtsein der Heimlichkeit geweckt wird. Er
ein Reisender ihm zuraunte, daß er in Carlos Hut ein
ist aber zu feig und träge, um den Bann der Lüge zu brechen
Zwanzig=Francsstück geworfen habe, während er ihn tatsäch¬
und die Geliebte von ihrem Mann, der, in den Folianten be¬
lich nur mit einem Franc beschenkte. Was veranlaßt den
graben, kein Verständnis für sie hat, zu fordern, und in seiner
Reisenden jedoch, durch eine Lüge Mißtrauen zwischen den
Ohnmacht schiebt er grollend alle Schuld auf Adele, die zwi¬
Brüdern zu säen, das tragische Schicksal des Blinden durch
schen der Sehnsucht nach dem Geliebten und der Treue gegen
eine in Gift getauchte Unwahrheit auf die Spitze zu treiben?
den betrogenen Gatten hin und her schwankt. Da reist Adele:
Aus Schadenfreude begeht er die Teufelei nicht, denn er schüt¬
plötzlich ab, nachdem sie dem Professor eingestanden, daß sie
telt beim Anblicke Geronimos den Kopf mit einem Ausdruck
sich Mutter fühle, und ihm, als er ihr jubelnd seine freudige
von Traurigkeit. Daß er den Begleiter für einen Fremden
Ueberraschung gezeigt, weinend, wie ein Kind, die Hände ge¬
hält und Geronimo zur Vorsicht mahnen will, vermag aber
küßt hat. Wilhelm will ihr am nächsten Morgen nachreisen,
nicht eine Lüge zu rechtfertigen, deren Komplikationen leicht
um von ihr selbst zu erfahren, was sie denkt, was sie vorhat,
Auch „Die griechische Tänzerin“ welche
abzusehen sind. —
was sie fürchtet; er kann sich aber nur zu einem Briefe auf¬
die Geschichte einer Frau erzählt, die in ihrer unendlichen
raffen, der ihm Klärung seines ersten Aufruhrs bringt. Er
Liebe ein unerschütterliches Vertrauen zu ihrem Gatten
bittet sie um Wahrheit und stellt ihr eindringlich vor, er müsse
heuchelt, als wäre es ihre höchste Pflicht, ihm den Genuß
Gewißheit haben, um als Mann zu handeln — ihr, sich selber
des Daseins auf keine Weise zu stören, zeigt uns den souverä¬
und dem Professor gegenüber. Nach mehreren Tagen bekommt
nen Beherrscher der. Klaviatur der menschlichen Seele.
er eine lange, stockende, aus dem Innersten hervorgequälie
„Andreas Thameyers letzter Brief“ und „Exzentrik“ passen
Beichte. Sie schwört ihm, daß sie ihn und nicht ihren Mann
nicht in diese vornehme Gesellschaft. Sie sind Produkte einer
liebe, versichert ihm jedoch in demselben Atemzug, daß sie
ausgelassenen Stimmung, wie sie der letzte Fasching gebiert.
niemals den Mut haben werde, das Recht auf das Kind dem
Schnitzler wird von Hugo v. Hofmannsthal ab¬
Gatten zu entziehen, da die Ruhe seines Gemüts ihr teuer
gelöst. Ich muß gestehen, daß mir das „Märchen der 672.
sei. Wilhelm soll sich zusammennehmen, um die Christin in
Nacht“ ein Buch mit sieben Siegeln ist, daß ich zu nüchtern
ihr zu begreifen. Sie fühle in sich die Pflicht, dem ringenden
angelegt bin, um seiner Phantasie auf dem Fluge in das
Künstler nicht die Zukunft zu verrammeln, er werde jetzt erst
Reich der Mystik folgen zu können. Es fehlt mir auch an der
leben, sie aber werde sterben und auferstehen. Der gute
nötigen Trunkenheit, an dem entsprechenden Enthusiasmus,
Wilhelm läßt sich dies gesagt sein. Er hört demütig auf die
um dem zu sehr getragenen, überschwenglichen „Brief“ Ge¬
Worte der sentimentalen Romantikerin, deren strömende
schmack abzugewinnen, den Philipp Lord Chandos an Francis
Tränen den Brief fast unleserlich machen, er denkt nicht an
Bacon schrieb, um sich bei ihm wegen des gänzlichen Verzih¬
die Rechte und Pflichten eines Vaters, er nimmt gleich ihr
tes auf literarische Betätigung zu entschuldigen. Ich hoffe si¬
des, daß ich nicht allein stehe, daß viele mit mir stutzig sind 1 ein Kreuz auf sich, weil er gleich ihr den Mut der Wahrheit
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