V, Textsammlungen 2, Die griechische Tänzerin. Novellen, Seite 20


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2. Die griechische Taenzerin
Jahrg. 1906
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Das Willen für Hlle
buch“ gerühmt werden, das, von Hartleben zur Ver¬
Wissens außer Kritiken und Essays die einzigen Prosa¬
öffentlichung bestimmt, und durch F. F. Heitmüller
arbeiten Hofmannsthals, für eine geringe Summe käuf¬
herausgegeben worden ist. Freilich ist dies das Einzige,
lich sind. Arthur Schnitzlers Band Die grie¬
was an diesem Buche gelobt werden kann. Und dieser
chische Tänzerin“ enthält außer der nicht sonderlich
hohe Preis ward dadurch erzielt, daß das Prinzip der
bedeutenden Geschichte einer Künstlerehe (das Buch heißt
„Woche“ hier zum ersten Male auf Memoiren ange¬
nach dieser Geschichte) eine amüsante Groteske und die
wandt worden ist. Wir erblicken Otto Erich Hartleben
Erzählung vom blinden Geronimo und seinem Bruder.
in den mannigfachsten Lebenslagen: photographiert auf
Der Blinde wird von einem „Puppenspieler“, wie sie
dem schönen Salzburger Friedhof, in Rom, mit Fritz
in Schnitzlers Dichtungen oft geschildert werden, von
von Khapnach fechtend, in seinem Studio u. s. w. Das
einem, der mit Menschen Schicksal spielt, in den Wahn
„Tagebuch“ selbst ist von erschreckender Leerheit. Das
versetzt, sein Bruder habe ihn um Geld betrogen. Der,
kann freilich nur den verwundern, der nicht die inner¬
um das Geld zu schaffen, das Geronimo von ihm fordert,
liche Leere fast aller Hartleben'schen Dichtungen längst
stiehlt. Die Brüder werden verhaftet, und jählings
erkannt hat. Das Buch enthält außer belanglosen bio¬
leuchtet in dem Blinden die Erkenntnis auf. Dies ist
graphischen Aufzeichnungen nichts Erwähnenswertes,
eine der reinsten und zartesten Dichtungen, die Schnitzler
ausgenommen sehr interessante Bemerkungen über den
geschaffen hat. Ein dritter Wiener Poet, Felix Salten,
Reim. Ganz selten begegnet ein hübsches Wort, wie
erzählt die freche Geschichte vom „Schrei der Liebe“.
dies: Der Vorfrühling ist die Prärafaelitenzeit des
Ein Operettenstoff wird mit breiter Sächlichkeit vorge¬
Jahres“. Das Buch ist arm, ohne Gehalt, ja fast ohne
tragen. Der Gehalt dieser Erzählung ist gering. Doch
Inhalt. Und es wirkt komisch, daß dies dürftige kahle
wird mancher ein leichtes und künstlerisch nicht ganz
Tagebuch angeregt ist durch die Tagebücher Hebbels,
wertloses Vergnügen an ihr finden. Dem Ernsteren aber
eines der reichsten Werke aller Zeiten. Man braucht
entsteht der Wunsch, unsere Dichter möchten geschlecht¬
aber gar nicht an Hebbel zu denken, um die Nichtigkeit
liche Dinge, wenn auch mit letzter Freiheit, doch mit
des Hartleben'schen Tagebuches zu empfinden. Das
letztem Ernst behandeln. Daran fehlt es völlig in dem
„Tagebuch“, das Hermann Bahr während des Winters
Bande eines anderen Wieners, in Felix Dörmanns
1905/6 (in der Wiener Zeitschrift „Der Weg“) ver¬
„Alleguten Dinge“. Die Geschichte, nach der das
öffentlicht hat, war reich an Gedanken, Beobachtungen
Buch benannt ist, wirkt als eine einzige, ohne Witz,
und Perspektiven. Die Aufzeichnungen, die Carl Haupt¬
doch mit Behagen berichtete Obszönität. Derlei soll
mann aus seinem Tagebuch drucken läßt, offenbaren
vielleicht — satirisch wirken, ist aber nichts als eine
Reichtum, Tiefe, Allempfinden. Daneben wirkt das
Cochonnerie, wie sie von Franzosen mit mehr Esprit und
Hartleben'sche Tagebuch als eine Atrappe, die, wenn
Grazie vorgetragen wird. Die übrigen Erzählungen des
man sie in der Hand wiegt, durch eine unangenehme
Bandes, namentlich „Meine Bräute“, sind ebenfalls
Leichtigkeit belästigt.
in erstaunlichem Maße nicht nur jeden Gehaltes, sondern
Bei dieser Gelegenheit seien zwei neue Dichtungen
überhaupt jeden Wertes bar, durchaus erquälte Erzeug¬
von Bahr und Carl Hauptmann betrachtet. Bahrs
nisse durchaus bracher Stunden. Der Schriftsteller, der
„Andere“ ist eine äußerlich bühnenmäßige Form, die
immerhin „Ledige Leute“ verfaßt hat, sollte dergleichen
Teile aus der zweiten Hälfte eines Romans umschließt.
nicht veröffentlichen, und ein Verlag, der auf sich hält,
Manche Gestalten würden in epischer Darstellung wahr¬
nicht Erzählungen solchen Niveaus drucken lassen. Muckern
haftiger wirken, alle gedanklichen Absichten im Roman
und Philistern werden durch Publikation solcher Ge¬
reiner erreicht werden. Allein, Publikum und Kritik, in
schichtchen, die fast alle nichts sind als lasziv, Waffen
München und in Wien, haben über den dramatischen
dargereicht und zugeschliffen. Der Band, der aus Hart¬
Schwächen die dichterischen Eigenschaften des Stückes
lebens Nachlaß zusammengestellt wurde, Das Ehe¬
nicht erkannt. Es ist ein Gesang von der Kraft der
sest“ ist gleichfalls von unsäglicher Dürftigkeit. Das
Liebe, die das tiefste Wesen des Menschen entdeckt und
erste Kapitel der Erzählung „Das Ehefest“ ist gänzlich
befreit. Es ist eine psychologische Musik; wie Leitmotive
überflüssig; das zweite Kapitel hat mit der Geschichte
klingen Gedanken aus dieser und wieder aus jener und
nicht den geringsten Zusammenhang, sondern gehört an
jener Seele. Es ist ein Versuch, anarchistische Philo¬
eine andere Stelle des Bandes, in den Zyklus von Ge¬
sophie künstlerisch zu formen. Es ist hie und da voller
schichten, die sämtlich mit dem Satze endigen: „Und in
geheimer Lyrik, und eine Stelle (im Beginn des dritten
Schweiß gebadet erwachte ich“; es teilt mit ihnen Art,
Aktes) ward dem Dichter ohne seinen Willen zu einem
Refrain, Unwert. Das letzte Kapitel verläuft ohne eine
pantheistischen Liebesgedicht. Ueber alle Einwände und
Spur von Witz, Satire, Ironie oder tieferer Bedeutung.
Mißgefühle hinaus bebt in dem Nachdenksamen eine
Des Ferneren birgt dieser Band Aphorismen über „Tie
Ergriffenheit lange nach. Es ist zu hoffen, daß das
Frau“. Diese Aphorismen gehören zum Nichtigsten, was
lesende Publikum an dieser Dichtung gut macht, was
über dies oft mißhandelte Thema gesagt worden ist.
Premierenbesucher und Kritik an ihr versäumt haben.
Wie es möglich war, daß diese Schriftstücke gedruckt
Carl Hauptmanns Erzählung „Einfältige“ ist in
wurden, wäre unbegreiflich, wenn man nicht wüßte, daß
der „Bibliothek moderner Autoren“ erschienen. Eine ein¬
in unserem Literaturbetrieb der „Name“ alles gilt.
fache einfältige Geschichte von der Liebe zweier alter
Einem Unbekannten wären diese Aphorismen, Traum¬
Menschen zu einem Knaben, der ihnen genommen werden
geschichten u. s. w. mit wendender Post heimgesandt
soll, und den sie zuletzt doch behalten. Und sie leben
worden. Wenn derlei aber gedruckt wird, sollte es
noch lange fort „im Scheine dieses Jungen“. Dies ist
wenigstens, zur Einschränkung der Verbreitung, nicht so
erzählt in einem breiten, bildhaften Stil, den man ge¬
trostlos billig sein. Daß es ziemlich teuer ist, muß
(unter diesem Gesichtspunkte) an Hartlebens „Tage= nießt, wie den Geschmack und Duft herben starken