V, Textsammlungen 3, Dämmerseelen. Novellen, Seite 41

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3. Da rseelen
Deniueion.
Neue deutsche Erzählungsliteratur.
Von Kurt Aram (München).
Kann die Welt des Occulten auch über einen geistig freien,
kühl=verständigen Kopf Macht gewinnen? Als ganz junger
Mensch lebte ich fast ein Jahr lang in nächster Nähe eines
älteren Herren, der ein Typus seelischer Nüchternheit und
klarer Verständigkeit war. Eines abends kam das Gespräch
zufällig auf Mystik und Occultismus, wovon wir beide nicht
viel hielten. Aber plötzlich verlor mein Bekannter alle Ge¬
messenheit und Ruhe und zeigte sich merkwürdig rat= und
hilflos. Er erzählte folgende, an sich nicht einzigartige Ge¬
schichte: Eines nachts wachte er auf, vor ihm stand seine
Mutter und nahm Abschied von ihm. Er hatte gar keinen
Anlaß, in dieser Zeit häufiger an seine Mutter zu denken,
die als gesunde, rüstige Frau bei einer verheirateten Tochter,
lebte. Er hatte sich auch ohne irgendeine besondere Erregt¬
heit zu Bett begeben, sondern in ganz normaler Verfassung.
wie sich eben ein ruhiger und verständiger Mensch nach seines
Tages Arbeit zus Ruhe begibt. Die nächtliche Erscheinung
beunruhigte ihn nun dermaßen, daß er in aller Frühe an seine
Mutter telegraphicte. Die Mutter war zu der Zeit, da sie
ihm erschien, gestorben. Ich erzähle das nicht, um mich
über Fernwirkung und dergleichen auszulassen, sondern um zu
sagen: wäre diesef ältere, geistig bedeutende Mann zugleich
ein Dichter gewesen, so wäre ihm jenes nächtliche Erlebnis
nach der starken Wirkung zu urteilen, die es auf ihn hatte,
wahrscheinlich ein Anlaß zu Dichtungen über allerhand occulte
Probleme geworden.
Arthur Schnitzler nun, gewiß einer der klarsten und
gescheutesten unseren Dichtern, hat einen Band
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Erzählungen? „Dämmerseelen“) erscheinen lassen, in
deren Mittelpunkt feltsame, mystische Vorgänge und mancher¬
lei Unter- und Unbewußtes steht. Diese Erzählungen, deren
Sprache sich mit ganz besonderer Sorgfalt an Goethe ge¬
bildet hat, sind zum Teil sehr auflegender Natur und doch
wird der Leser nur selten entsprechend warm. Man bewun¬
dert die ungewöhnliche Kunst, mit der hier scheinbar absichts¬
los alles der Pointe zugeführt wird. Man erbaut sich an
dem feinen artistischen Stilgefühl, mit dem dieser kluge Künst¬
ler jeder seiner besonderen Geschichten ihre besondere Form
1) S. Fischer, Berlin.

gibt. Es ist ein Genuß, dem Spürsinn dieses Psychologen zu
folgen und all den hübschen, leise ironischen Wendungen zu
lauschen, aber warm und menschlich ergriffen wird man nur
selten. Arthur Schnitzler besitzt keine mystische Ader, und
er hat, nach diesen Erzählungen zu urteilen, auch nicht etwas
ähnlich Mysteriöses wie mein alter Bekannter persönlich er¬
lebt. Nur solches Erleben aber verliehe diesem gescheuten
Kopf die innere, dichterische Macht und Gewalt, den Leser bei
solchen Geschichten nicht nur zu interessieren, sondern auch zu
bewegen und zu erwärmen. Schnitzter geht diesen Dingen
etwa wie ein Arzt nach. Er hat darüber gelesen, in seiner
Praxis ist er auf solche Fälle gestoßen, und nun will er sich
über sie klar werden. Aber schon sein Verstand belehrt ihn.
daß dies nicht geht. Er wird nun nicht hilf= und ratlos wie
mein alter Bekannter; er läßt die Fragen, die sich hier auf¬
tun, einfach offen und erzählt seine Fälle. Nur in einer
Erzählung gewinnt er alle Macht über den Leser, die einem
Dichter beschieden ist. Ich meine die Perle der Sammlung,
die ein wenig komische und doch so traurige und menschlich
wahre Liebesgeschichte des Freiherrn von Leisenbohg. Das
Wesentliche dieser Erzählung heruht aber auch nicht auf
occulten Tingen im gewöhnlichen Wortverstand, sondern ein¬
fach auf den Geheimnissen eines menschlichen Herzens,
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