V, Textsammlungen 7, Gesammelte Werke, Seite 2

besannelte Nerke box 35/9
Der Merker, Wien
VON NEUEN BOCHERN UND NOTEN.
darstellen (Nansen: Die Romane des Herzens,
GUTE BUCHER.
bei Fischer), der „Gösta Berling“ etwa, von so
Unsere Zeit, ist literarisch gewertet, die Zeit
eminent musikalischem Gehalt, fast wie Sym¬
(der Gesamtausgaben. Tote und lebende Autoren
phonien in Worten, Schöpfungen, die man, musi¬
lpräsentieren sich auf dem Büchermarkte in
kalisch wiedergegeben, sofort erkennen, vielleicht
noch besser verstehen müßte.
gesammelten Werken. Ob berechtigt oder nicht,
sei dahingestellt. Sprechen wir vom einzelnen
Die Darstellung des Menschlich-Typischen
scheint mir das höchste Ziel unserer Kunst
Fall. Die Gesamtausgabe der Werke Arthur
Schnitzlers (bei S. Fischer, Berlin) liegt in
zu sein. Unter den lebenden Dichtern wüßte ich
keinen, der zwei unter den Toten darin erreichen
Sändel Erzählender und in vier Bänden
dramatischer Schriften vor und gewährt chrono¬
würde, den Russen Gontscharow nämlich und
logisch geordnet einen Überblick über Schnitzlers
Flaubert. Gontscharow, dessen Werke der
bisheriges Schaffen. Das fünfzigste Lebensjahr
Verlag Bruno Cassirer in Berlin in
kann immerhin als Anlaß für eine Gesamtausgabe
einer sehr schönen, von Karl Walser geschmückten
anerkannt werden, bei Gerhart Hauptmann
Gesamtausgabe herausgibt, stellt die Typen der
nun sogar für eine Volksausgabe, aber es muß
russischen Gesellschaft des 10. Jahrhunderts in
drei großen Romanen dar. In „Oblomow“ und
keineswegs einen Abschnitt in der geistigen
Entwicklung eines Dichters bedeuten. Ohne durch
„Eine alltägliche Geschichte“, die städtische
die Gesamtausgabe angedeutet zu sein, scheint
Gesellschaft, die Lebewelt, die Jugend, ihre
Ziele, ihre Lebensvergeudung, in der „Schlucht“
dies bei Schnitzler der Fall zu sein. Als
Dramatiker hat er sich mit dem „Medardus“
den alten russischen Landsitz und dessen Be¬
wohner, denen die große Welt fremd und feindlich
und dem „Weiten Land“ einer neuen Domäne
zugewendet, der Charakterdarstellung der Einz l-
erscheint. Und in ihre Ruhe tritt plötzlich ein
persönlichkeit als Symbol gleichsam der Gesell¬
junger Mann, das moderne Leben, nervös,
schaft, in der sie lebt. Ein Schritt auf diesem Wege
strebend, zielbewußt und ziellos, revolutionär,
die neue Zeit nicht mit Worten, doch in der eigenen
ist wahrscheinlich auch Schnitzlers neues Stück
„Professor Bernhardi“. Keineswegs aber er¬
Person verkündend. So sehr waren Gontscharows
freulich wirkt die Goethe-Pose (stilistisch) des
Gestalten Typen, daß die ganze russische Gesell¬
in die Gesamtausgabe aufgenommenen Bandes
schaft erschreckt sich auf sich selbst besann und
vielleicht der moderne gewandelte Russe dies
„Masken und Wunder“. Die sehr schön ausge¬
stattete Gesamtausgabe soll doch nicht am Ende
zum Teile, wenn auch unbewußt, dem großen
Gontscharow verdankt.
den Verzicht des Erzählers Schnitzler auf sich
In Flauberts Jugend führt uns der kostbar
selbst zugunsten einer ihm wesensfremden
Maske bedeuten? — Einen reizvollen Gegensatz
gedruckte und gebundene Band, der bei J. C. C.
zur deutschen Epik bildet die des Nordens, der
Bruns in Minden von Paul Zifferer übersetzt
Selma Lagerlöf etwa, die in einer zehn¬
und herausgegeben worden ist. Den Meister kennen
bändigen Gesamtausgabe bei Albert Langen
wir, den Schöpfer der Bovary und der Education
sentimentale! Hier tritt uns der junge Flaubert
in München erschienen ist. DemDeutschen wird,
was er gestaltet, Idee und Gedanke, oder vielmehr,
entgegen, tastend, den Weg zu sich selbst
er stellt das Mensch- und Schicksalwerden von
suchend, ein Ahnender, noch kein Wissender.
Ideen und Gedanken dar, mit dem Hirn Er¬
Der ganze Sturm und Drang, aller Weltschmerz
genialer Jugend findet sich in diesen Historien
kenntnissuchend;das Gefühl wird bloß Stimmungs-
und Legenden, Erzählungen und Visionen
element. Ein Beispiel: der Caspar Hauser von
Wassermann (bei Fischer, Berlin, Volksausgabe).
des jungen Flaubert, deren manche der Meister
Bei den nordischen Epikern, bei Nansen, bei
nicht erst für den Nachlaß allzu kritisch hätte
der Lagerlöf, scheint mir das Gefühl das Primäre
aufsparen müssen. Wie reizvoll, wenn man bei
der Lektüre plötzlich neben jugendlichem Uber¬
zu sein und den Weg zu den Untiefen des Seins
schwang ein Wort voll Weisheit und Tiefe findet,
zu weisen. Darum sind die Lebenswege, die sie
nan
liest und wieder liest und denkt: an diesem hätte
man den künftigen Flaubert erkennen müssen.
Genial im Erfassen des Typischen steht
Frankreichs Shakespeare da, Molière, dessen
sämtliche Werke bei Alexander Duncker
in Weimar erscheinen, zum Teil übersetzt von
Otto Hauser, dem wir jüngsten Datums die
sehr empfehlenswerte, im „Merker“ gewürdigte
Anthologienbibliothek „Aus fremden Gärten“
danken. Diese Molière-Ausgabe umfaßt sämt¬
liche Werke, nicht die übliche Auswahl in chro¬
nologischer Anordnung, sie ist daher wie keine
andere geeignet, dem Nurdeutschleser einen
Uberblick über Molières „oeuvre“ zu gewähren.
Ihm widmet Herbert Eulenberg in den
„Schattenbildern“ (B. Cassirer) Worte
ehrlicher Bewunderung. Alle Dichter und Denker,
an denen sich ein künstlerisch und vor allem
menschlich Empfindender erwärmen kann, finden
in diesem Buch ihre Würdigung. Cervantes etwa,
dessen Don Quixote in der Reihe der Abenteurer¬
romane, schön gebunden von Will Vesper
herausgegeben, bei Martin Morike in München
für g Mark zu haben ist. In derselben Bibliothek
sind erschienen die Schicksale des Magisters
Laukhard, von ihm selbst erzählt, die
Schriften Grimmelshausens, denen noch andere
Bände folgen sollen. Verständnisvoll weiß
Eulenberg Brentanos religiöse Wandlung dar¬
zustellen, dessen bekannteste Novellen „Die
Chronika eines fahrenden Schülers“, „Die
Geschichte vom braven Kasperl und der schönen
Annerl“ u. a. in einer Liebhaberbibliothek
(pro Band Mark 1.so) bei Kiepenhausen in
Weimar erschienen sind. Entzückend sind die
Bändchen dieser Bibliothek, schwarz mit Gold¬
viere. Selten vermittelt ein Brevier so glücklich.
das Bild einer Persönlichkeit, wie dieses. Aus
Briefen, Aussprüchen und aus seinen Werken
spricht Schopenhauer zu uns. Es ist, als beginne
sein Bild von Wulff, dem Bande beigegebenz
zu leben und sprechen.
Felix Langer,