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1. Panphlets offorints
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Schaeffer.
sie tief schlafend mit schwer geschlossenen Lidern in ihrer Jugendschönheit
neben ihm ruhte, da liebte er sie grenzenlos, und je ruhiger sie schlief,
je weltabgeschiedener ihr Schlummer, je ferner ihre träumende Seele
seinen wachen Qualen schien, umso wahnsinniger betete er sie an. Und
einmal, es war in der Nacht, bevor sie den See verlassen sollten, über¬
kam ihn eine kaum bezwingbare Lust, sie aus diesem köstlichen Schlafe,
der ihm eine hämische Untreu dünkte, aufzurütteln und ihr ins Ohr zu
schreien: „Wenn Du mich lieb hast, stirb mit mir, stirb jetzt".
Und Marie, die sich von dem schlummernden Kranken heimlich fortge¬
stohlen, sinnt: „Ich bin bei ihm, weil ich ihn liebe. Ich bringe kein
Opfer, denn ich kann ja nicht anders. Und was soll nun werden?
Wie lange wird es noch dauern? Es giebt keine Rettung — und was
dann? Ich hab einmal mit ihm sterben wollen — Warum sind wir
uns jetzt so fremd? Es ist bald Zeit, zu ihm zurückzukehren.
Ist es ihm nur recht, wenn sie bei ihm ist? Würdigt er denn ihre
Zärtlichkeit? Wie herb sind seine Worte! Wie stechend sein Blick!
Und sein Kuß! Wie lange haben sie sich nicht geküßt! Sie muß an
seine Lippen denken, die nun immer so blaß und trocken sind. Sie will
ihn auch nur mehr auf die Stirn küssen. Seine Stirn ist kalt und
feucht. Wie häßlich das Kranksein ist.
Schnitzler ist ein Virtuose der Kunst, die einmal erzeugte Stimmung
festzuhalten, scheinbar absichtslos zu steigern und bis zu ihrem Gipfel
emporzutreiben. Da ist die kleine Novelle „Abseied“ Erst das
bloße nervös machende Warten auf die Geliebte, dann die Ungewißheit
ihrer Krankheit, die Furcht, sie könnte sterben, die Kunde ihres Todes,
alles geschrieben, daß es uns die Nerven aufregt und peinigt, und duß
wir die wenigen Seiten nicht vergessen können. Aber er kann uns auch
wie in der „Frau des Weisen“ durch seine musikalische Sprache den
innigen Frieden einer dänischen Küste nah bringen. Wie leise und
diskret sind da die Farben, und jedes Wort ist von jener stillen
Schwermut umzittert, die den armen, gelben Gestaden des Nordens
eigen
Was Arthur Schnitzler einem starken kommenden Geschlechte sein
wird? Man stellt solche Fragen gern, wenn es sich um Moderne
handelt. Meistens kommt es doch immer anders, und darum ist es
sehr überflüssig, der Zukunft des Kunstempfindens nachzugrübeln. Aber
wir Kinder des Heute, wir lieben Arthur Schnitzler, weil er eine
Individualität ist, weil in dem Sehnen, in dem Träumen und den Be¬
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Schaeffer.
sie tief schlafend mit schwer geschlossenen Lidern in ihrer Jugendschönheit
neben ihm ruhte, da liebte er sie grenzenlos, und je ruhiger sie schlief,
je weltabgeschiedener ihr Schlummer, je ferner ihre träumende Seele
seinen wachen Qualen schien, umso wahnsinniger betete er sie an. Und
einmal, es war in der Nacht, bevor sie den See verlassen sollten, über¬
kam ihn eine kaum bezwingbare Lust, sie aus diesem köstlichen Schlafe,
der ihm eine hämische Untreu dünkte, aufzurütteln und ihr ins Ohr zu
schreien: „Wenn Du mich lieb hast, stirb mit mir, stirb jetzt".
Und Marie, die sich von dem schlummernden Kranken heimlich fortge¬
stohlen, sinnt: „Ich bin bei ihm, weil ich ihn liebe. Ich bringe kein
Opfer, denn ich kann ja nicht anders. Und was soll nun werden?
Wie lange wird es noch dauern? Es giebt keine Rettung — und was
dann? Ich hab einmal mit ihm sterben wollen — Warum sind wir
uns jetzt so fremd? Es ist bald Zeit, zu ihm zurückzukehren.
Ist es ihm nur recht, wenn sie bei ihm ist? Würdigt er denn ihre
Zärtlichkeit? Wie herb sind seine Worte! Wie stechend sein Blick!
Und sein Kuß! Wie lange haben sie sich nicht geküßt! Sie muß an
seine Lippen denken, die nun immer so blaß und trocken sind. Sie will
ihn auch nur mehr auf die Stirn küssen. Seine Stirn ist kalt und
feucht. Wie häßlich das Kranksein ist.
Schnitzler ist ein Virtuose der Kunst, die einmal erzeugte Stimmung
festzuhalten, scheinbar absichtslos zu steigern und bis zu ihrem Gipfel
emporzutreiben. Da ist die kleine Novelle „Abseied“ Erst das
bloße nervös machende Warten auf die Geliebte, dann die Ungewißheit
ihrer Krankheit, die Furcht, sie könnte sterben, die Kunde ihres Todes,
alles geschrieben, daß es uns die Nerven aufregt und peinigt, und duß
wir die wenigen Seiten nicht vergessen können. Aber er kann uns auch
wie in der „Frau des Weisen“ durch seine musikalische Sprache den
innigen Frieden einer dänischen Küste nah bringen. Wie leise und
diskret sind da die Farben, und jedes Wort ist von jener stillen
Schwermut umzittert, die den armen, gelben Gestaden des Nordens
eigen
Was Arthur Schnitzler einem starken kommenden Geschlechte sein
wird? Man stellt solche Fragen gern, wenn es sich um Moderne
handelt. Meistens kommt es doch immer anders, und darum ist es
sehr überflüssig, der Zukunft des Kunstempfindens nachzugrübeln. Aber
wir Kinder des Heute, wir lieben Arthur Schnitzler, weil er eine
Individualität ist, weil in dem Sehnen, in dem Träumen und den Be¬