VI, Allgemeine Besprechungen 1, Friedrich Düsel Dramatische Rundschau, Seite 5


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1. Panphlets offprints
Friedrich Düsel:
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widerstehlichkeit im Fluge des bangen Mädchens
Seele und Leib gewann. Alles war bereit zur
Flucht, aber im letzten Augenblicke sank dem gro¬
ßen Lebenskünstler der Mut vor den Folgen
und Fesseln, die er damit auf sich laden würde.
Ihm graut vor den Pflichten und vor den Rie¬
geln, die sich mit einer Heirat vor die offenen
Türen seiner schimmernden Zukunft schieben wür¬
den. Die Unbekümmertheit seiner Jugend, die
Fülle des Daseins ist ihm nicht feil auch für
den schönsten Liebestraum. Einsam geht der
Liebeleere seinen Weg weiter, und das Jugend¬
erlebnis wird ihm alsbald zur Erinnerung, die
ihn weder schmerzt noch drückt, die nur ein
ästhetischer Schmuck mehr ist in seinem Genu߬
und Asthetenleben. Als dann aber das Alter ihn
überschattet, als die jagende Unrast von ihm
weicht, als er sich einsam zu fühlen beginnt, da
sucht er, der nie bisher dauerndes Glück zu geben
oder zu empfangen vermochte, doch einen Men¬
schen, der zu ihm gehört und für den weiter auf
der Welt zu sein es sich lohnt. Und in der
naiven Zuversicht des Egoisten glaubt er, daß,
wofern er nur jemandes wirtlich bedarf, er auch
schon ein Anrecht auf ihn habe. Der Sohn,
Gnnd Jurlse
auch wenn er ihn so lange verleugnet hat, kann
sich ihm ja gar nicht entziehen, sobald er ihm
begann, nicht Erinnerung, ehe das Lied geendet?
nur den Zusammenhang offenbart! Aber er
Gerade in erhöhten Stunden unseres Daseins
täuscht sich. In anderer Weise, als er meint,
wissen wir, daß wir nichts verloren haben und
hat Felix den „Sinn für das Wesentliche“. Daß
eigentlich nichts verlieren können. Dieses In¬
einanderfließen von Erinnerung und Gegenwart,
von Gegenwart und Ahnung macht es, daß in
dem ganzen Stück eigentlich nichts zu pulsendem,
kraftvoll atmendem Leben erwacht, daß keine sei¬
ner Gestalten sich ins Weiße des Auges sehen
läßt und fast alle uns die Hand entziehen, wenn
wir in aufkeimendem Mitempfinden ihnen die
unserige entgegenstrecken wollen. Aber, scheint
Schnitzler zu fragen, kennen wir Menschen ein¬
ander denn überhaupt? Gehen wir nicht viel¬
mehr trotz all der Worte, die wir tauschen, stumm
und stumpf aneinander vorüber? „Wer hat sie
denn gekannt von uns allen? wer kümmert sich
denn überhaupt um die anderen?“ Das sagt ein
Bruder von seiner Schwester, die plötzlich — nie¬
mand weiß, warum und wohin — aus diesem
Leben verschwunden ist. Wort und Situation
erscheinen wie ein Echo aus dem „Schleier der
Beatrice". Die Wegraths in Wien sind wie die
Nardi in Bologna. Sie scheinen nicht geschaffen,
wirklich zu besitzen: weder Frau noch Kinder.
Es ist ihr Beruf, Wesen in ihren Armen aufzu¬
nehmen, die von irgend einer Leidenschaft müde
oder zerbrochen sind; aber sie ahnen nicht, woher
sie kommen. Es ist ihnen gegönnt, Wesen heran¬
zuziehen und zu betreuen; aber sie verstehen nicht,
wohin sie gehen. So meint der, der die Melo¬
die ihres Glückes im Entstehen zerbrochen hat.
Der Sohn, den die zarte Gabriele ihrem Gatten
im ersten Jahr ihrer Ehe geschenkt hat und der
nun dreiundzwanzig Jahre alt, ist sein Sohn,
Julian Fichtners Kind, der kurz vor der Hochzeit
Mee
mit dem Bräutigam, seinem Freund, in Gabrieles
„Novella d'Andrea“ von Ludwig Fulda.
Gesichtskreis trat und mit seiner genialen Un¬