VI, Allgemeine Besprechungen 1, Friedrich Düsel Dramatische Rundschau, Seite 7

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Panphlets offerints
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Friedrich Düsel:
von dem alten Wegrath. Aber dieses Wenige
läßt uns warm und innig empfinden für einen
Mann, der, ein Künstler mehr von Handwerk
als aus innerem Beruf, wie ein Mensch von
reiner, unantastbarer Güte „mitten im Betruge“
sitzt und doch keinen Deut seines Wertes verliert.
Wie für die beiden unfruchtbaren Künstler und
Genießer in seinem Rubek („Wenn wir Toten
erwachen"), so hat Ibsen auch für diesen schlich¬
ten Pflicht= und Alltagsmenschen in gewissem
Sinne die Vorbilder geliesert; aber Schnitzler,
einmal geweckt, hat ihn mit eigenen Augen ge¬
sehen. Und nun ereignet sich das Wunder, das
Dichterkunst wahr macht: der Verwaiste, dem
Weib, Tochter und Sohn entgleiten, geht nicht
einsam den Weg gen Abend, mit ihm, dem
Alten, schreitet der Junge; jeder von ihnen hat
einen Menschen und ein Ziel, wofür er leben
und wirken kann. Von diesen beiden innerlich
aufrechten Gestalten geht also sch##glich doch noch
jenes aufrichtende und pfadweisende Licht, wenn
auch nur in mattem Strahl, aus, das Trau¬
riges zum Tragischen, Erschütterung zur Erhe¬
bung macht. Nicht die Musik des Stückes selbst
bringt dieses sieghafte Gefühl zustande — das
ist und bleibt seine Schwäche —, aber die Me¬
lodie geht uns nach, und in stiller Stunde, eh'
wir es ahnen, blüht sie singend in uns auf ...
Schnitzler läßt sein Stück im Wien der Ge¬
genwart spielen, während wir uns doch nicht ver¬
hehlen können, daß ihm nach seiner ganzen ver¬
0e SaeSelschtnt
schleierten Art eine auch zeitliche Entfernung von
unseren Tagen eher zum Vorteil als zum Nach¬
teil gereicht hätte. Seine beiden Künstlermen¬
sie verloren hätten, ohne uns gleich dafür be¬
schen, die so schönheitsgierig den Genüssen des
zahlt zu machen?“
kurzen Lebens nachjagen, gemahnen geradezu an
Auch sonst wird das Leitmotiv des Stückes,
gewisse Gestalten der Renaissance. Von Lud¬
daß nur Liebe dieses Leben lebenswert macht,
wi., Fuldas Menschen, wie sein Schauspiel
daß nur sie uns vor der kalten Einsamkeit schützt,
„Novella d'Andrea“ (Buchausgabe bei J. G.
von Schnitzler noch mannigfach varüert. Aber
Cotta, Stuttgart), zuerst im Wiener Burgtheater
auch die diese Erkenntnis positiv vertreten, wie
aufgeführt, sie uns zeigt, kann man das nicht
die Schauspielerin Irene Herms, die sich aus
behaupten, so fleißig sich der Dichter um das
dem unfruchtbaren Reiche der Kunst zur Natur
Zeitkolorit des italienischen Trecento bemüht hat.
und an den warmen Herd der Familie zurück¬
Ein innerer Grund, dies Gelehrten= und Frauen¬
geflüchtet hat, und die das Wort spricht: „Eine
emanzipationsdrama ins Bologna des dreizehn¬
Frau, die kein Kind hat, ist gar nie eine ge¬
ten Jahrhunderts zu verlegen, will sich mir nicht
wesen“, auch diese Gestalten werden unter des
ergeben. Daß Novella, des gelehrten Rechts¬
Dichters allzu weichen Händen keine rechten voll¬
professors gelehrte Tochter, das Katheder der
saftigen Menschen von Fleisch und Blut. Am
Universität besteigt und die Kollegien ihres Vaters
lebendigsten und sympathischsten erscheinen am
trotz der unehrerbietigen Allotria verliebter Scho¬
Ende doch die beiden Wegraths, Vater und
laren fortsetzt, wäre ja wohl kaum nötig gewesen;
Sohn aus Wahlverwandschaft des Herzens und
das heute auch unseren Damen so leicht zugäng¬
des Charakters. Der junge Ulanenossizier, so
liche Doktordiplom hätte es am Ende auch getan.
sein organisiert er ist, erweist sich bereits als
Denn der Gelehrsamkeit ergibt sich doch auch die
wirklich einer von jener kommenden Generation,
Bologneserin eigentlich nicht um der Gelehrsam¬
die Schnitzler mit dem Blicke des Moses vom
keit, sondern vielmehr des Mannes, des Gelieb¬
Berge Horeb in dämmernder Ferne sieht: Män¬
ten willen. Den ebenso diplomatisch geschickten
ner mit „weniger Geist und mehr Haltung“.
wie humanistisch gelehrten Sangiorgio hofft sie
Ihn zieht es zu dem, der die Pflicht und das
durch ihre Bücherweisheit sicherer als durch Schön¬
Recht höher stellt als den rücksichtslosen Genuß
heit und Anmut gewinnen zu können. Aber sie
und die gebotelose Selbstherrlichkeit des Künst¬
hat die Rechnung ohne die Oberflächlichkeit eines
lers, und unbeirrt durch schmeichlerische Lockun¬
Männerherzens gemacht, das sich, wie es bei
gen von rechts und links geht er den geraden
Gelehrten auf der Bühne nur zu oft der Fall,
Pfad seines Gewissens. Wenig erfahren wir über sein eigenes Wollen und Empfinden völlig