VI, Allgemeine Besprechungen 1, Hans Benzmann, Seite 16

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Panphlets, Offprints
Hans Benzmann in Berlin. —
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nicht rauschen. Hier ist tiefe Einsamkeit, denn man fühlt sie immer; auch
wenn man unter den vielen Leuten ist, im Hotel, auf der Promenade.
Die Curcapelle spielt meist melancholische schwedische und dänische Lieder,
aber auch ihre lustigen Stücke klingen müd und gedämpft. Wenn die
Musikanten fertig sind, steigen sie schweigend über die Stufen aus dem Kiosk
herab und verschwinden mit ihren Instrumenten langsam und traurig in den
Alleen. Das ist ein unsagbar feines süßmelancholisches Gedicht! Und mit
ebenso feinen seelischen Accorden setzt dann die Liebesepisode ein; sehr
schade, daß der Schluß mit seiner feuilletonistischen zerfahrenen und unwahren
Pointe alle Kunst vernichtet und alle Tiefe wieder aufhebt. Die Novelle
hat der Dichter nicht in sich reifen lassen. Wir werden aber vollkommen
entschädigt durch die Meisternovellen „Ein Abschied“, „Der Ehrentag“,
„Blumen“, „Die Todten schweigen“. Die psychologische Novelle: „Ein
Abschied“ behandelt wieder das Thema von der Ehebruchsliebe. Er erwartet
sie, sie kommt nicht; sie kommt immer noch nicht, er glaubt, sie sei krank;
seine Furcht wird Gewißheit, er sieht sie in seiner Phantasie auf dem
Sterbebette liegen; er eilt nach ihrem Hause, er ist zu feig, hinaufzueilen, er
fragt die Diener und hört, daß sie wirklich krank sei. Und nun folgen
entsetzliche Tage. Er darf nicht zu ihr, er darf sich und sie nicht verrathen
und schließlich eilt er doch in wahnsinniger Angst nach oben zu ihr, und
da ist sie schon todt. An dem Todtenbett kniet der Gatte. Dieser sieht nicht,
wer neben ihm steht — er ergreift nur die Hand des Fremden und dankt
für die Theilnahme. Der Andere wird sich nun seiner Feigheit bewußt.
Wie ein Dieb schleicht er leise davon; denn ihm war, als dürfe er nicht
trauern wie die Anderen, als hätte ihn seine todte Geliebte davongejagt,
weil er sie verleugnet. — Man muß das lesen. Die Stimmung und die
außerordentlich schön gelungene Steigerung derselben, die seelischen Kämpfe
lassen sich mit ein paar Worten nicht im Entferntesten wiedergeben. Diese
Kunstwerke sind zu fein und zart, sie können kaum disponirt werden.
„Die Blumen“ hätte unser norddeutscher Meister Theodor Storm geschrieben
haben können. Es ist ein Seelengemälde voll tieftrauriger, echt=lyrischer
Stimmung. „Ein Ehrentag“ erzählt uns die traurige Lebensgeschichte
eines kleinen Schauspielers. Dem Dichter ist hier einmal die Zeichnung
eines Charakters, der seinem Wesen bisher fremd war, vollkommen gelungen.
Die Novelle eröffnet uns neue Aussichten. „Die Todten schweigen“ ist
wiederum ein Meisterstück der Seelenschilderungskunst. Diese unheimliche
Nachtscene — das ehebrecherische Weib an der Leiche des Geliebten, den ein
Sturz vom Wagen bei gemeinsamer nächtlicher Fahrt getödtet hat — ver¬
räth wahrhafte dichterische Kraft und Phantasie. Hier erinnert mich
Schnitzler an die großen russischen Meister. Mit diesen hat er auch die
Natürlichkeit im Darstellen gemein. Wie bei diesen entwickeln sich auch bei
ihm aus dem Kleinsten, dem Alltäglichsten die großen Tragöden des Lebens.
Diese Kunst lernten wir schon bei der Betrachtung der Schauspiele „Liebelei“
Arthur Schn
und „Freiwild“ bewundern. In den
Richtung hin neue Perspectiven eröffnet.
Schnitzler ist der Dichter seiner Zeit
nicht in der Vergangenheit, er greiften
Zukunft hinein. „Es fehlen die heim
Qualen der Bildung, die tausend Zweif
Das Wilhelm=Meisterliche, die sittliche Erz
und Nöthen der Seele ist dieser neuen
Vergängliche hält sie vom Ewigen weg,“
satz: „Das junge Oesterreich“ (I. c.).
Schaffen Schnitzlers. Charakteristisch ist
reichischen Dichter eine gewisse Einseitigkeit
vollkommen. Gerade an dieser Einseitig
künstlerische Talent. Als ein solches zeig
lichen Dichtungen. Seine besondere Na
würdige, Originelle an ihm. Frühzeitig
entsprechende Technik anzueignen. Ich wie
hin, in die ihn seine allzu behende Virtuo
Schnitzler weiß seinen Weg. Er wir
irren. Die fremden Gebiete, die er als
liegen seinem Wege nahe. Er zieht das
allmählich immer mehr. So wächst der
Gleiche: der feine und klare Künstlergeist
Wiener Dichter.

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